„Die Wahlkampagne kann noch sehr spannend werden“
Europawahlen neigten dazu, fad zu sein. Doch 2024 ist es anders, meint Anna-Lena Högenauer, EU-Expertin an der Uni Luxemburg
Bei den EU-Wahlen rücken die großen Visionen in den Hintergrund und es geht endlich um konkrete Politik, findet EU-Expertin Anna-Lena Högenauer. Die Forscherin an der Universität Luxemburg erklärt, wieso die Wahlkampagne dadurch automatisch spannender wird.
Anna-Lena Högenauer, viele Politiker behaupten, dass die Zukunft der Europäischen Union bei den Wahlen am 9. Juni auf dem Spiel steht. Ist dem so?
Ich sehe das weniger dramatisch. Bei der Wahl geht es weniger um einen möglichen Zerfall der EU als um ihre Richtung. Das heißt, in welchen Politikfeldern man zusammenarbeitet, wie weit die Zusammenarbeit geht und auch, was genau man macht.
Immerhin. Dennoch scheinen die EU-Wahlen, historisch gesehen, nur wenig zu begeistern. Wie lässt sich die tendenziell niedrige Wahlbeteiligung EU-weit erklären?
In Osteuropa und in den anderen sogenannten neuen Mitgliedstaaten ist es so, dass relativ wenig über die EU geredet wird. Das heißt, viele Bürger haben sehr wenig Bezug zur EU. Oder die EU wird nur dann erwähnt, wenn populistische Politiker behaupten, dass sie irgendwas macht, was vermeintlich schlecht für das Land sei. So ist das Interesse dort relativ niedrig.
Und in Westeuropa ist das Problem, dass es bei diesen Wahlen bislang oft nur um große Prinzipien ging. Die EU stand für Friede, Freude, Eierkuchen und die Haupt-Parteien haben sich nie richtig gegeneinander positioniert. Dadurch waren die Wahlen meist relativ fad und für den Bürger recht wenig interessant.
Genau deswegen kam 2014 die Idee der EUweiten Spitzenkandidaten auf, bei denen die europäischen Parteienfamilien einen Kandidaten für den EU-Kommissionsvorsitz nominieren, um in den Wahlkampf zu ziehen. Dadurch sollte der Ausgang der Europawahlen klarer werden, der Einsatz höher
und das Resultat lesbarer. Eigentlich eine gute Idee, oder?
In der Theorie war die Idee, dass die EU-Wahlen der Auswahl eines Premierministers in einem Nationalstaat gleichen. Ähnlich wie in Luxemburg Xavier Bettel für die DP und Luc Frieden für die CSV landesweit in den Wahlkampf ziehen, sollen EU-Spitzenkandidaten das Gleiche auf EU-Ebene tun. Und sie präsentieren dann ihre Politik und stehen jeweils für ihre Parteienfamilie. Das Problem ist allerdings, dass sich gezeigt hat, dass es auf der europäischen Ebene eigentlich so nicht funktioniert.
Die Funktionsweise der EU macht es für Spitzenkandidaten fast unmöglich, sich scharf zu positionieren und im Wahlkampf klar Stellung zu beziehen. Denn der Kommissionspräsident muss ja unter den Mitgliedstaaten mehrheitsfähig sein, sogar einen Neutralitätseid ablegen und alle Bürger der Union gleich vertreten. Das heißt: Wenn ein Kandidat die Regierung eines Mitgliedslandes zu scharf kritisiert, etwa wie der sozialistische EU-Spitzenkandidat Frans Timmermans es 2019 mit Ungarn tat, disqualifiziert er sich fast automatisch für den Posten.
Das macht das Ganze unheimlich kompliziert. Deswegen sieht man wohl, dass sich immer weniger Personen überhaupt für den Posten des Spitzenkandidaten bewerben. Dieses Jahr gab es weder bei der Europäischen Volkspartei (EVP) noch bei den Sozialisten wirklich Bewerber für den Posten. Es gab lediglich Ursula von der Leyen bei der EVP und Nicolas Schmit bei den Sozialdemokraten.
Was ist dann die Alternative zum System der Spitzenkandidaten, um die EU-Wahlen interessanter zu machen?
Wichtiger wäre, dass man sich als Partei ein europäisches Programm gibt und diesen dann ausführlich und konkret kommuniziert. Das haben die politischen Parteien bislang aber versäumt. Meistens blieb es bei vagen Botschaften: Die EU ist wichtig für den Frieden oder die europäische Integration ist wichtig. Und alle wollen allgemein mehr machen für dies und das. Doch es braucht viel konkretere Programme, um politische Konflikte aufkommen zu lassen und Alternativen aufzuzeigen zwischen den verschiedenen Parteien.
Apropos Alternativen. Die meisten Parteien der Mitte warnen vor einem anstehenden Rechtsruck im EU-Parlament. Ist die Sorge gerechtfertigt?
Durchaus. Manche Parteien, die sehr weit rechts stehen, sind auch ausgesprochen radikal und rütteln derzeit an demokratischen Rechten – sie wollen Rechte von Frauen, sexuellen Minderheiten oder Migranten beschneiden. Einige sind auch offen demokratiefeindlich. Allerdings nicht alle. Nicht alle sind prorussisch und gleich radikal. Allgemein würde ich auch sagen, dass 2019 der politische Zeitgeist relativ weit links stand, obwohl die EVP die größte Partei bei den Wahlen wurde.
Dennoch dominierten Themen wie Klimaschutz oder Diversität die politische Agenda. Die Sozialisten waren damals auch in den Verhandlungen sehr stark und haben sich mit vielen Forderungen durchgesetzt, weil von der Leyen sie für eine Mehrheit unbedingt brauchte. 2024 ist alles ein bisschen anders in der öffentlichen Meinung. Unter dem Einfluss der vielen Krisen machen sich die Leute mehr Sorgen um ihren persönlichen Wohlstand und um ihre persönlichen Probleme.
Was heißt das für den Wahlkampf?
Die großen Visionen rücken dadurch in den Hintergrund. Und das führt dazu, dass der Wahlkampf automatisch konkreter wird. Auf der einen Seite haben wir die Sozialdemokraten und Grünen, die Klimaschutz als absolutes Muss sehen. Auf der anderen Seite die Konservativen, die sagen: Klimaschutz ja, aber eben möglichst effizient und kostengünstig. Diese Art von Debatten finden sich dann in den meisten Themenfeldern wieder.
Wie viel investieren wir tatsächlich in die Armee? Wie machen wir das bei der Handelspolitik mit China um Russland?
Wie soll man den wirtschaftlichen Aufschwung mit der Sozialpolitik ausbalancieren? Wie wichtig ist es, dass wir wieder Unternehmen anziehen? Welche Unternehmen? Sogar in der Migration geht es nicht um die Grundsatzfrage „Für oder gegen Migration“, sondern darum, wer darf kommen? Und wie laufen diese Asylprozeduren ab? Wer bestimmt darüber? Wie schnell wird darüber bestimmt und wo?
Das finden Sie tendenziell gut?
Ich sehe das eher positiv. Die Wähler erkennen so verschiedene Alternativen in der Mitte und haben auch eine wirkliche Wahl. Vielmehr, als wenn es beim Wahlkampf nur um die Frage: „Für oder gegen die EU“gehen würde. Was aber noch ein bisschen fehlt, ist die Sichtbarkeit. Ich habe das Gefühl, dass in Luxemburg der Wahlkampf noch nicht so ganz sichtbar ist.
Aber die Debatten existieren im Prinzip. Und wenn das jetzt noch deutlicher herauskommt und die inhaltlichen Auseinandersetzungen auch in der breiten Masse ausgetragen werden, dann könnte das durchaus für die Wähler eine sehr spannende Kampagne werden.