Luxemburger Wort

Verrat und Tod eines Helden im Maquis

Albert Ungeheuer war einer der bekanntest­en luxemburgi­schen Fluchthelf­er im Zweiten Weltkrieg. Seine Taten bleiben auch nach 80 Jahren unvergesse­n

- Von Jean-Philippe Schmit

Am vergangene­n Sonntag vor 80 Jahren wird im elsässisch­en Konzentrat­ionslager Natzweiler-Struthof ein Luxemburge­r hingericht­et, der mehr als tausend seiner Landsleute vor den Nazis gerettet hat. Seine Geschichte ist spektakulä­r. Sein Mut ist beispielha­ft.

Sie endet mit Verrat: „Das ist der Mann“, sagt der Agent Steffen, als Albert Ungeheuer am 14. März 1944 gegen 17 Uhr aus der Präfektur der französisc­hen Stadt Clermont-Ferrand tritt. Albert Ungeheuer, alias Albert Desmots, alias Albert Monstre, alias Albert Jourdain oder Monsieur Albert, wie den Nazischerg­en in diesen Tagen klar wird, bringt Kriegsflüc­htlinge aus Luxemburg über die Grenze ins freie Frankreich. Das ist sein Verbrechen.

Die Resistenzo­rganisatio­n Pi-Men, die „Formation des Patriotes indépendan­ts luxembourg­eois“, der auch Albert Ungeheuer angehört, wird Ende 1940 gegründet. Ein Teil der Organisati­on leistet Aufklärung­sarbeit für die Alliierten, ein anderer hilft abgeschoss­enen alliierten Flugzeugbe­satzungen und entflohene­n Kriegsgefa­ngenen zur Flucht. Noch während des Krieges richtet der amerikanis­che General Dwight D. Eisenhower, eine Dankesbots­chaft an den Luxemburge­r: „Der Präsident der Vereinigte­n Staaten hat mich damit beauftragt, Albert Ungeheuer den Dank und die Anerkennun­g des amerikanis­chen Volkes für seinen tapferen Dienst bei der Flucht von alliierten Soldaten vor dem Feind auszusprec­hen.“

Als Gauleiter Gustav Simon am 30. August 1942 die allgemeine Wehrpflich­t im

Großherzog­tum einführt, steigt die Zahl der Geflüchtet­en aus Luxemburg. Auch sie werden von den Pi-Men über die Grenze gebracht. Im französisc­hen Exil verhilft Albert Ungeheuer den Refraktäre­n zu Papieren, Unterkunft und Arbeit. Marcel Meyer, Beamter im „Bureau de Placement des réfugiés alsaciens“in Les Ancizes, einem kleinen Ort zwischen Lyon und Limoges, hilft ihm dabei.

Nach ihrer Ankunft werden die Geflüchtet­en im Hotel von Jean Cros untergebra­cht und von dort aus in die Umgebung verteilt. Zeitweise sind alle Zimmer des Hotels mit Luxemburge­rn belegt. Insgesamt werden während des Krieges schätzungs­weise 1.200 Flüchtling­e aus dem Großherzog­tum in der Umgebung untergebra­cht. 3.540 Briefe, 858 Pakete und 225.000 FF werden von den Pi-Männern unbemerkt von den Deutschen aus der Heimat ins Exil gebracht.

„Findet das Hotel Jean Cros, fragt nach Monsieur Albert und sagt, Joséphine schickt euch“, bekommen die Geflüchtet­en mit auf den Weg. Ende 1943 steigt die Zahl der Schutzsuch­enden exponentie­ll an. Der Überliefer­ung nach stürmen einmal 50 bis 60 Luxemburge­r die Terrassen des Dorfes und singen lautstark „de Feierwon“, was zu diesem Zeitpunkt im besetzten Luxemburg unter Strafe steht. Luxemburge­r sind sogar in Schlägerei­en zwischen Schwarzmar­kthändlern verwickelt.

„Die Gestapo ist uns auf den Fersen, es kommen zu viele Flüchtling­e. Unmöglich, sie wieder loszuwerde­n“, schreibt Albert Ungeheuer in einem seiner letzten Briefe nach Differding­en. Das „große Maul“und die „Faulheit“mancher Landsleute bereiten Probleme, „es ist traurig zuzusehen, wie die Jungen es nicht schaffen, stillzuble­iben – auch wenn sie uns alle damit in große Gefahr bringen“.

Luxemburge­r verrät andere Luxemburge­r

Aber auch unter den Resistenzl­ern gibt es Reibungen: „Kameraden sabotieren meine Arbeit, so sind 44.000 FF aus unserer Kasse verschwund­en.“In seinem Brief erwähnt er auch einen „gewissen Steffen“, der sich als Flüchtling ausgibt und nach Arbeit fragt. „Da der Mann einen merkwürdig­en Eindruck auf mich machte, habe ich es abgelehnt, ihn einzustell­en“, schreibt Albert Ungeheuer.

Und doch ist es dieser Mann, der ihn verrät. Albert Ungeheuers Misstrauen gegen Steffen ist begründet. Er ist ein Agent des deutschen militärisc­hen Nachrichte­ndienstes „Abwehr“und bereits am 7. März aus Luxemburg nach Clermont-Ferrand gekommen. Er soll dort die Informatio­nen überprüfen, die die Besatzer von einem luxemburgi­schen Exilflücht­ling erhalten haben, der aus freien Stücken ins besetzte Luxemburg zurückgeke­hrt ist und dort Kontakt zur Gestapo sucht.

Am 10. März trifft ein weiteres Abwehrkomm­ando aus Luxemburg ein. Kurz nach ihrer Ankunft stoßen die Männer auf einen Luxemburge­r, den sie sofort festnehmen. Drei Tage später treffen sie auf den Agenten Steffen. Er hat von einem hochgewach­senen Luxemburge­r gehört, den alle nur „Desmots“nennen. „Schwarzer Mantel, Baskenmütz­e und ein kleiner blonder Schnurrbar­t“, so beschreibt er Albert Ungeheuer. Jeden Tag zwischen 14 und 16 Uhr sei er in der Präfektur.

Als Albert Ungeheuer am 14. März 1944 gegen 17 Uhr die Präfektur verlässt, wird er von Agent Steffen erkannt und sofort verhaftet. Ungeheuer ist überrascht, an Flucht ist nicht zu denken. Im selben Augenblick halten im Zentrum von Les Ancizes sieben Militärlas­twagen, aus denen 40 Wehrmachts­soldaten und zehn Feldgendar­men springen. Albert Ungeheuer und andere Verhaftete werden nach Luxemburg gebracht. Am 16. März werden die Fluchthelf­er Marcel Jung und Ernest Lorang in Longwy verhaftet.

In der Zwischenze­it gehen die Aktivitäte­n der Pi-Men weiter. François Goldschmit, einer der wichtigste­n Schleuser der Organisati­on, bringt Anfang April vier Deserteure über die Grenze nach Frankreich. Bei seiner Rückkehr wird er von einer deutschen Patrouille entdeckt, es kommt zu einem Gefecht, bei dem Goldschmit an der Schulter verwundet wird.

Ihm gelingt die Flucht und er wird heimlich von einem luxemburgi­schen Arzt behandelt. Um keinen Verdacht zu erregen, beschließt Goldschmit, nicht unterzutau­chen, sondern an seinen Arbeitspla­tz zurückzuke­hren. Am 8. April legt er sich nach der Nachtschic­ht gegen fünf Uhr morgens schlafen. Kurz darauf steht die Gestapo in seinem Zimmer. Das Fluchtnetz der Pi-Men ist zerschlage­n.

Die Gefangenen werden in der Villa Pauly verhört und gefoltert

Fernand Schwartgen, ein weiterer Gestapo-Häftling, erinnerte sich nach dem Krieg an Goldschmit und Lorang. Er schreibt 1986, er sei in der Villa Pauly verhört worden – „zusammen mit dem jungen Lorang, den sie

in Frankreich gefangen genommen hatten, und dem Passeur Goldschmit“. Und weiter: „Lorang neben mir weinte wie ein Kind und rief nach seiner Mutter. Es war nicht schön.“

Die Häftlinge kommen in das SS-Sonderlage­r Hinzert und werden von dort in das Gefängnis im Viertel Grund gebracht. Am 18. März fährt ein Transport ins Elsass. An Bord sind sechs Verhaftete aus dem Puy de Dôme, die Fluchthelf­er, die in Longwy festgenomm­en worden waren, sowie zwei Personen (der ehemalige Spanienkäm­pfer Georges Tholl und der staatenlos­e Nazigegner Georg Steiner), die in keiner Verbindung zu den Pi-Männern stehen. Der Jüngste, Ernot Lorang, ist 22, der

Älteste, Jean Cros, 44 Jahre alt. Am 18. Mai 1944, einem Donnerstag, kommt der Transporte­r gegen 17 Uhr im Konzentrat­ionslager Natzweiler-Struthof an, wo die Neuankömml­inge auf andere Luxemburge­r treffen. Der Erkennungs­dienst des Lagers erhält den Befehl, sich am nächsten Tag gegen 9 Uhr zu melden. Die Tatsache, dass die Luxemburge­r in die Häftlingsk­artei aufgenomme­n werden sollen, wird als „gutes Zeichen“gewertet. Die wirklichen Pläne der SS sind zu diesem Zeitpunkt niemandem bekannt. Die elf Häftlinge werden am nächsten Tag vom Lagerfotog­rafen, einem Luxemburge­r, fotografie­rt.

Im Laufe des Tages ändert sich die Lage. Der Lagerzahna­rzt, ebenfalls Luxemburge­r, erhält gegen 16 Uhr den Befehl, sich um 18 Uhr bereitzuha­lten. Der Vorarbeite­r des Krematoriu­ms wird informiert, dass der Ofen angeheizt werden soll. Als der Lagerfotog­raf hört, dass die SS den Neuankömml­ingen befiehlt, sich um 17 Uhr vor der Schreibstu­be einzufinde­n, ahnt er, was auf sie zukommen wird.

Dann geht es Schlag auf Schlag. Den Gefangenen wird vor der Schreibstu­be das Todesurtei­l verlesen – zur sofortigen Vollstreck­ung. Die Möglichkei­t, einen letzten Brief an die Familie zu schreiben, wird ihnen verwehrt. Nach dem Abendappel­l müssen sie antreten. Eskortiert von SS-Truppen verlassen die elf Personen das Lager in Richtung Kiesgrube.

Wenige Augenblick­e später erhält das Totengräbe­rkommando den Befehl, die Särge in die Kiesgrube zu bringen. Während das Kommando den Befehl ausführt und die Holzkisten schleppt, hört es Schüsse. Die Todesurtei­le wurden vollstreck­t. Gegen 18.45 Uhr sind die SS-Mannschaft­en wieder in ihren Quartieren und gehen ihrer gewohnten Arbeit nach.

Die Stimmung unter den Luxemburge­rn im Lager ist sehr schlecht. Sie können das Morden nicht verhindern. Alles, was sie tun können, ist, die Asche der Toten unter einem Holzboden im Kremations­gebäude zu verstecken. Als drei Wochen später, am 6. Juni 1944, luxemburgi­sche Funktions

Findet das Hotel Jean Cros, fragt nach Monsieur Albert und sagt, Joséphine schicke euch.

häftlinge die SS-Küche aufräumen müssen und dabei das Radio einschalte­n, erfahren sie von der Landung der Alliierten in der Normandie. Sie schöpfen Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende.

Fünf Monate später wird das KZ Natzweiler Struthof aufgelöst, die Häftlinge werden nach Osten verlegt. Kurz darauf ist der Zweite Weltkrieg Geschichte. Die Ereignisse des 19. Mai haben ein Nachspiel. Im August 1945 reist eine Luxemburge­r Delegation ins Elsass. Sie kommen, um die Asche der Erschossen­en in die Heimat zu überführen. Die Verstorben­en werden am 6. August 1945 in Differding­en beigesetzt. 79 Jahre später, am kommenden Mittwoch, den 22. Mai, wird in Differding­en am Grab der Ermordeten gedacht.

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Fotos: LW-Archiv Der Passeur Albert Ungeheuer. Er brachte während dem Krieg tausende Flüchtling­e in Sicherheit.
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Foto: Chris Karaba/LW-Archiv Der Eingang zum Konzentrat­ionslager Natzweiler-Struthof: In der Kiesgrube wurden vor 80 Jahren elf Gefangene erschossen.
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Am 6. August 1945 wurde die Asche der Verstorben­en in Differding­en beerdigt.

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