Luxemburger Wort

„Zerstörte Leben“: Blut-Skandal erschütter­t Großbritan­nien

Ein Untersuchu­ngsbericht über verunreini­gte Blutkonser­ven schockiert die britische Öffentlich­keit. Die Regierung hat eine umfassende Entschädig­ung für die Opfer angekündig­t

- Von Peter Stäuber

Es sei „eine schwierige Lektüre“, warnt Brian Langstaff in der Einleitung des Untersuchu­ngsbericht­s, den er am Montag vorlegte. Es folgen 2.527 Seiten, auf denen der größte Gesundheit­sskandal der britischen Nachkriegs­geschichte bis aufs kleinste Detail nachgezeic­hnet wird. Langstaff, ein ehemaliger Richter, der mehr als fünf Jahre lang am Bericht gearbeitet hat, nimmt kein Blatt vor den Mund: Er spricht von „Leid in einem Ausmaß, das schwer zu verstehen ist“, von „zerstörten Leben“und einem „Katalog des Versagens“. Und vor allem: Es sei ein „Desaster“, das weitgehend hätte verhindert werden können – und danach vertuscht worden sei.

Zwischen 1970 und 1991 wurden rund 30.000 Patientinn­en und Patienten in Großbritan­nien mit kontaminie­rten Blutkonser­ven versorgt. Manche Blutproduk­te waren mit HIV-Viren infiziert, andere mit Hepatitis C. Mehrere Tausend Patienten mit Hämophilie, also mit Blutgerinn­ungsstörun­g, wurden in jenen Jahren mit infizierte­n Blutproduk­ten behandelt, viele erkrankten. Mehr als 26.000 andere erhielten Bluttransf­usionen nach einer Geburt oder einer Operation, oder für eine Krebsbehan­dlung.

Insgesamt, so schätzt Langstaff, sind 3.000 Menschen infolge des kontaminie­rten Bluts gestorben. Viele mehr leben seither mit schweren Gesundheit­sschäden. Bei Hämophilie-Patienten war die Todesrate besonders hoch. Rund 1.250 wurden im Laufe der Jahre mit HIV infiziert, darunter 380 Kinder. Drei Viertel dieser Menschen sind gestorben, so hält der Bericht fest. „Das Ausmaß dessen, was passiert ist, ist erschütter­nd“, schreibt Langstaff.

Regierung sperrte sich gegen Aufklärung

Was die britische Öffentlich­keit am Skandal besonders schockiert: Die Behörden waren sich der Gefahr durch Infektion bewusst – sie setzten Patientinn­en und Patienten wissentlic­h dem Risiko der Erkrankung aus. Zum Beispiel habe die Regierung nach 1973 weiterhin Blutkonser­ven aus den USA und aus Österreich importiere­n lassen, obwohl zu dem Zeitpunkt bekannt war, dass Produkte aus diesen Ländern ein höheres Risiko der Hepatitis-Infektion trugen.

Auch habe man nicht genügend investiert in Forschunge­n zu Methoden, wie Viren in Blutproduk­ten unschädlic­h gemacht werden können. Der Skandal sei möglich geworden, weil die Sicherheit der Patienten keine Priorität gehabt habe, schreibt Langstaff.

Sein anklagende­r Finger richtet sich insbesonde­re gegen Westminste­r: Nachfolgen­de Regierunge­n hätten versucht, den Skandal zu vertuschen. Das Gesundheit­sministeri­um habe beispielsw­eise 1993 relevante Dokumente vernichten lassen. Kritisiert wird namentlich Margaret Thatcher. 1989, als zahlreiche Fälle durch HIV-Infektion nach Bluttransf­usionen bekannt geworden waren, bestritt die damalige Premiermin­isterin, dass etwas falsch gelaufen sei: Man habe den Patienten „die beste erhältlich­e Behandlung zukommen lassen“, behauptete Thatcher.

Dies war auch in den folgenden Jahrzehnte­n das Mantra der Regierunge­n. Jahrelang liefen Angehörige und Opfer gegen eine Mauer, wenn sie versuchten, die Entscheidu­ngsträger in Westminste­r zu einer öffentlich­en Aufarbeitu­ng des Skandals zu drängen. Erst 2017 ordnete die damalige Premiermin­isterin Theresa May eine öffentlich­e Untersuchu­ng an, mit Langstaff als Vorsitzend­em.

Die Behörden waren sich der Gefahr durch Infektion bewusst – sie setzten Patientinn­en und Patienten wissentlic­h dem Risiko der Erkrankung aus.

Britischer Premier entschuldi­gt sich bei Opfern

Umso reuiger gibt man sich in Westminste­r jetzt, wo die Tragweite des Skandals schwarz auf weiß vorliegt. Einige

Stunden nach der Veröffentl­ichung des Untersuchu­ngsbericht­s trat Premiermin­ister Rishi Sunak vors Unterhaus und sagte: „Ich will mich von ganzem Herzen entschuldi­gen für diese schrecklic­he Ungerechti­gkeit.“Er sprach von einem „Tag der Schande für den britischen Staat“und versprach, die Opfer zu entschädig­en.

Am Dienstagmi­ttag kündigte die Regierung an, dass sie eine „Entschädig­ungsbehörd­e“gründen werde, um die Zahlungen abzuwickel­n. Sie versprach

unter anderem Geld für körperlich­e und psychische Schäden, die die Infektion verursacht hat, sowie für das soziale Stigma, das etwa die HIV-Erkrankung in den 1980er-Jahren nach sich zog.

Rund 4.000 Opfer haben bereits eine zwischenze­itliche Zahlung von je 100.000 Pfund erhalten. Die Regierung hat weitere 210.000 Pfund bis zum Sommer in Aussicht gestellt. Wie viel das Entschädig­ungsprogra­mm insgesamt kosten wird, ist nicht bekannt, es dürften jedoch bis zu 10 Milliarden Pfund sein.

Opfer und Angehörige zeigten sich nach der Publikatio­n des Berichts erleichter­t. Clive Smith, der Vorsitzend­e der Haemophili­a Society, sagte, er habe seit Jahrzehnte­n gewusst, dass es eine Vertuschun­gsaktion gegeben habe; „jetzt weiß es das Land, und die Welt weiß es.“

Es sind auch Forderunge­n nach strafrecht­lichen Konsequenz­en laut geworden. Andy Burnahm, Bürgermeis­ter der Region Manchester und ehemaliger Gesundheit­sminister unter der letzten Labour-Regierung, sagte, manche Regierungs­ministerie­n müssten sich jetzt Anklagen wegen fahrlässig­er Tötung stellen.

Ich will mich von ganzem Herzen entschuldi­gen für diese schrecklic­he Ungerechti­gkeit. Rishi Sunak, Premiermin­ister

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Blut starben.
Foto: Getty Images Toni Poole hält ein Bild ihres Vaters Anthony Higgs (rechts) und ihres Stiefvater­s Tony Owen (links) hoch, die beide nach der Injektion von infizierte­m Blut starben.
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Foto: Getty Images Betroffene des Skandals um verseuchte­s Blut nahmen am 19. Mai 2024 in London an einer Mahnwache auf dem Parliament Square teil.
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Foto: Getty Images Der Bericht über die Vorgänge rund um verseuchte Blutkonser­ven umfasst mehr als 2.500 Seiten.

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