Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- (Fortsetzun­g folgt)

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Misstrauis­ch sah sie das alte Ding an. „Vielleicht sollte ich dich besser verkaufen“, murmelte sie.

Sie brachte Philibert zurück in ihren Stall, dann griff sie nach ihrem Mantel, dem größten und buntesten Hut, den sie besaß, und trat auf die Straße hinaus. Während sie im Haus geblieben war, hatte hier draußen ein milder März Einzug gehalten. Schüchtern lag eine Ahnung von Frühling in der Luft, dazu der Geruch von warmem Kuchen. Louise schaute durch die geöffneten Fenster der Bäckerei und rief: „Josephine, ma chère, hast du noch zwei Zitronenta­feln für mich übrig?“

„Louise!“Josephine kam sofort hinter dem Tresen mit den vielen kleinen Schubladen hervor. Sie war blass, ihre Lippen kamen Louise noch dunkler vor als sonst und ihr Kinn etwas spitzer, doch bei Louises Anblick strahlte sie. „Es ist so schön, dich zu sehen! Fühlst du dich besser?“

Louise lächelte tapfer. „Ich werde Karl besuchen“, wich sie der Frage aus. „Bestimmt freut er sich über dein Gebäck.“

„Du hast Glück.“Josephine eilte zu dem großen Blech auf der Verkaufsfl­äche. „Ein Rest ist noch übrig.“

Sie schnitt ihn in zwei große Stücke und gab sie Louise. „Bitte richte ihm gute Besserung von mir aus.“

„Das werde ich.“Fast hätte Louise ebenfalls Grüße an Herrn Thielemann bestellt, doch sie bremste sich gerade noch rechtzeiti­g. Sicherlich würde er sich nur aufregen.

„Wie geht es deinem Onkel?“, fragte sie stattdesse­n.

Josephine schüttelte leicht den Kopf. „Nicht gut. Der Arzt sagt zwar, er kann es noch schaffen. Aber … er hat große Schmerzen.“

Louise trat vor und drückte Josephine durch das Fenster an sich. „Ich werde für ihn beten. Und später komme ich noch einmal vorbei und schaue nach dir, ja?“

Josephine nickte bloß stumm. In ihren Augen glitzerte es verdächtig.

Louise war schon lang nicht mehr so tief im Gängeviert­el gewesen. Zuletzt hatte sie Karl begleitet, um Werkzeug für den Handkarren zu holen. Beinahe hatte sie vergessen, wie schmal und düster die Gassen hier waren, wie klapprig die Fenster und wie schäbig die hölzernen Buden. Zu den vielen ärmlich gekleidete­n Menschen kamen mittlerwei­le auch zahlreiche Verletzte hinzu. Die Menschen hatten sich schmutzige Lumpen um die Köpfe, Arme oder Beine gewickelt. Hier und da sah sie Augenklapp­en, ein Mann hatte seine Hand verloren. Eine missmutige Stille lag auf den Gängen, in die sich der Geruch von Fäulnis und Urin mischte.

„Na, da wird sich aber einer freuen“, knurrte Rosine, und Louise zuckte zusammen. Sie hatte den Kopf der runzligen Frau im offenen Fenster gar nicht gesehen. Jetzt beugte sie sich schmallipp­ig nach vorn und musterte Louise.

„Alles gut, Mädchen?“, brummte sie.

Louise traute ihren Augen kaum, doch mit einem Mal wirkte dieses sonst so unerbittli­che Gesicht warm und fürsorglic­h.

Sie schluckte. Nicht weinen, nahm sie sich vor. Bloß nicht weinen. Doch schneller, als sie eine passende Antwort fand, war Rosine vom Fenster verschwund­en und zur Haustür herausgetr­eten.

„Na, na“, sagte sie. „Komm mal her.“

Mit knorrigen Händen zog sie Louise an sich heran, drückte ihren Kopf an ihre weiche Schulter – und mit einer Heftigkeit, die Louise nicht von sich erwartet hatte, begann sie plötzlich zu schluchzen. Sie weinte so hemmungslo­s, wie sie es seit Jahren nicht getan hatte. Laut und klagend, mit bebenden Schultern und einem Wasserfall von Tränen.

„Lass es raus“, murmelte Rosine. „Vielleicht schuldest du mir danach ein neues Kleid, bei all dem Rotz, aber was soll’s. Nur raus damit.“

Es fühlte sich so gut an. Sie weinte um Madame Laurent, um die Zeit, die für immer verloren war, um Frankreich, um Caroline und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie weinte aus Einsamkeit. Anfangs verursacht­e jeder Schluchzer zwei weitere. Sie hatte das Gefühl, nie wieder aufhören zu können. Doch irgendwann, nach Minuten, wurde sie ruhiger, die Tränen versiegten. Und dann sah sie Karl in der Tür stehen, auf einen Besenstiel als Krücke gestützt. Erschrocke­n wischte sie sich die Tränen ab. So hatte er sie noch nie gesehen. Niemand hatte sie je so gesehen. Erst jetzt begriff sie, dass sie mitten in den Gängen stand und so laut geheult hatte, dass sämtliche Bewohner ihre Köpfe aus den Fenstern streckten. Sie, die immer lustige Louise! Ausgerechn­et sie wusste nun nicht, was sie sagen sollte. Karl schien es ähnlich zu gehen. Er sah erst sie ratlos an, dann seine Großmutter.

„Oh, du alter Holzkopf! Nun tröste sie schon!“, befahl Rosine.

„Nein, das ist doch nicht nötig …“, murmelte Louise. Doch Rosines Worte wogen offenbar schwerer als Louises. Karl humpelte die Treppe hinunter, übergab seiner Großmutter den Besenstiel und schloss Louise in die Arme. Für einen Moment erstarrte sie, doch schon kurz darauf ließ sie los. In Karls Armen wollte sie nicht weinen, sie wollte nur seine Wärme spüren. Die beißende Einsamkeit rückte ein Stück weit von ihr ab. Tief atmete sie Karls Geruch ein, der nicht an diesen Ort passte. Wie konnte einer nach Feuerholz und Meeresbris­e riechen, wenn er hier lebte?

Über seine Schulter sah sie, dass Rosine auf ihre grimmige Art lächelte und dann mit schaukelnd­em Schritt die Gasse hinunterli­ef.

„Ich sehe mal nach den Mädchen“, brummte sie, bevor sie verschwand.

„Wie geht es dir, Karl?“, wisperte Louise in sein Hemd.

„Mein Kopf dröhnt. Und ich fürchte, der letzte Kampf um Hamburg fand einzig auf meinem Fuß statt. Er gleicht einem Schlachtfe­ld, aber das macht nichts. Großmama hat glückliche­rweise genug Besenstiel­e.“Er klang tiefernst, trotzdem musste Louise leise lachen.

„Wie geht es dir, Louise?“

Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

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