Roy Lichtenstein: Kunst des Kitschs und Comics
Der Meister der amerikanischen Pop-Art zeigt seine sentimental wirkenden Werke in der Wiener Albertina
Viel Schwarz und Weiß, ein wenig Rot und Gelb – mehr Buntheit weist das in sehr exakte Flächen gegliederte Bild „Studie zu Figuren in einer Landschaft“aus dem Jahr 1977 nicht auf. Eine großformatige Abbildung dieser Arbeit begrüßt in der Wiener Albertina die Besucher am Eingang der Ausstellung „Roy Lichtenstein“. Dieses Objekt – das Original aus dem Louisiana Museum of Modern Art in Humblebaek in Dänemark ist nur 58 mal 71 Zentimeter groß und wie ein Großteil der Werke Lichtensteins mit Öl und Acryl auf Leinwand angefertigt – vermittelt bereits einen starken Eindruck vom Schaffen dieses Meisters der amerikanischen Pop-Art. Lichtenstein, sein Pop-Art-Kollege und Rivale Andy Warhol (1928-1987) und der als abstrakter Expressionist erfolgreiche Jackson Pollock (1912-1956) gelten als die drei populärsten Maler der USA.
Die Roy Lichtenstein Foundation hat drei Museen Teile ihrer Bestände geschenkt, eines davon ist die Albertina, die 2023 mit 95 Objekten bedacht wurde, wofür sich Generaldirektor Klaus Schröder anlässlich der Schau besonders bedankte.
An der Wand entlang der Rolltreppe in die untere Etage des Museums weisen rasch vorbeiziehende und daher für Besucher kaum zu verarbeitende Fotos und Texte auf Stationen im Leben von Roy Lichtenstein und historische Ereignisse des 20. Jahrhunderts hin. Anlass der Schau ist der erst wenige Monate zurückliegende 100. Geburtstag des Künstlers, der am 27. Oktober 1923 als Sohn deutsch-jüdischer Eltern in New York geboren wurde. Dort besuchte er von 1937 bis 1940 neben der High School die New York School of Fine and Applied Art. Als Soldat kam er 1943 nach Europa und nahm aus den Museen in London und Paris viele Eindrücke mit in die USA, wo er an der Ohio State University ein Lehramtsstudium absolvierte. Roy Lichtenstein arbeitete in den frühen 1950er Jahren als Zeichenlehrer, Schmuck- und Möbeldesigner, aber auch als technischer Zeichner und Modellbauer.
Markenzeichen „Ben-Day-Dots“
Die Albertina-Ausstellung, kuratiert von Gunhild Bauer, umfasst 89 Werke und breitet sich im Untergeschoss der Albertina über mehrere Räume großzügig aus. Möglich gemacht haben sie Leihgaben aus den bedeutendsten Museen der Welt und aus Privatsammlungen. Die Schau führt gleich in die 1960er Jahre, in denen Lichtenstein der amerikanischen Pop-Art mit einer neuen aggressiven Bildsprache, die sich an Comics, Cartoons und Reklamesujets orientierte, zum Durchbruch verhalf. Sein „Mädchen in der Badewanne“(1963) wirkt wie aus einem Werbekatalog, der Poster „Temple of Apollo“(1967) mit blau und weiß gepunktetem Hintergrund lässt sich auch als satirischer Abgesang auf die klassische Kunst interpretieren.
Während in der internationalen Kunstszene noch der abstrakte Expressionismus dominierte, belebten in Großbritannien und in den USA junge Künstler wieder die gegenständliche Malerei, sprengten dabei aber mit viel Ironie die herkömmlichen Grenzlinien zwischen hoher Kunst und Alltagskultur. Lichtenstein bediente sich dabei sehr oft einer Drucktechnik, die Benjamin Day (1838-1916), der Sohn eines amerikanischen Zeitungsverlegers, 1879 entwickelt hatte. Vergrößerte Rasterpunkte, „Ben-Day-Dots“genannt, füllen viele seiner Flächen und ergeben Bilder, deren Stil an primitive, billige Massendrucke erinnert.
1961 übernahm Lichtenstein auf dem Bild „Schau her, Micky“aus einem kleinen WaltDisney-Buch, das auch in der Albertina aufliegt, eine Zeichnung von Donald Duck und Micky Maus beim Angeln. Lichtenstein, der einer Anekdote zufolge damit seinen Söhnen beweisen wollte, dass er nicht nur abstrakte Bilder, sondern auch Cartoons malen könne, vereinfachte die Vorlage, verwendete grelle Farben, stempelte die Rasterpunkte mit einer Hundebürste und setzte Donalds Worte in eine Sprechblase. „Vorher war man in der Kunst ernsthafter gewesen“, meinte Lichtenstein, dem bewusst war, dass es zugleich absurd und komisch wirkte, aus einem Comic ein Kunstwerk zu machen.
Die Frage „Was ist Pop-Art?“beantwortete Lichtenstein 1963 so: „Der Einsatz von Werbegrafik als Inhalt der Malerei. Es war schwer, ein Bild zu finden, das mir abstoßend genug erschien, um die schamlosesten und bedrohlichsten Wesensmerkmale unserer Kultur zu thematisieren: Dinge, die wir zwar ablehnen, die aber übermächtig sind, wie Werbeschilder und Comics.“
Lichtenstein gibt den Eindruck, dass er sich über Kommerz- und Konsumwelt zwar lustig macht, aber sie nicht wirklich kritisiert, sondern als Realität akzeptiert und für seine eigene Künstlerkarriere nützt.
Seine Werke, die Beziehungen darstellen, wirken geradezu kitschig, emotional und sentimental, bedeuten aber in Wahrheit das Ende von echtem Pathos in der Kunst.
Comics und Werbung
Immer wieder vermittelt Lichtenstein den Eindruck, dass er sich über die Kommerz- und Konsumwelt seiner Zeit zwar lustig macht, aber sie nicht wirklich kritisiert, sondern als Realität akzeptiert und für seine eigene Künstlerkarriere nützt.
Dass er den Comicstrip in die Kunst holte und im Stil der Werbeindustrie agierte, trug ihm viel Kritik ein, er musste sich auch immer wieder Plagiatsvorwürfe gefallen lassen. Die öffentlichen Reaktionen fielen in seinen frühen Jahren zum Teil sehr heftig aus, und das Magazin „Life“fragte sogar 1964 in einem Titel: „Ist er der schlechteste Künstler in den USA?“
Was Lichtenstein produziert, fällt allerdings nicht unter den Begriff der Kopie, sondern der Aneignung, und dies in Form einer unterhaltsamen Umformung des Vorbilds. Seine Kunst besteht nicht in einer individuellen künstlerischen Handschrift, sondern in der durchaus originellen Herstellung von Werken, die den Eindruck von Massenware machen, wie er selbst feststellte: „Der abstrakte Expressionismus wirkte demgegenüber noch sehr menschlich. Meine Arbeit ist das genaue Gegenteil. Sie hat ein pseudomechanisches Aussehen: als sei sie maschinell hergestellt. Ich arbeite in einem Stil, der völlig gefühllos zu sein scheint.“
Mit feiner Ironie setzte sich Lichtenstein mit den Klischees von Männlichkeit und Weiblichkeit auseinander. Seine Werke, die Beziehungen darstellen, wirken geradezu kitschig, emotional und sentimental, bedeuten aber in Wahrheit das Ende von echtem Pathos in der Kunst. Die Frauen vergießen oft große stilisierte Tränen und liefern Sprechblasen. Die Titel der Bilder kommen aus der weiblichen Perspektive: „An ihn denken“(1963), „Ertrinkendes Mädchen“(1963), „Ich weiß, wie du dich fühlst, Brad“(1963), „Wir standen langsam auf“(1964).
Eine Lichtenstein-Aussage zu seinen Frauenbildern, die auch auf „Mädchen mit Ball“(1961) oder „Kleine Aloha“(1962) zutrifft, lautet: „Die Frauen, die ich male, bestehen nur aus schwarzen Linien und roten Punkten. Ich täte mir sehr schwer, für eines dieser Geschöpfe Feuer zu fangen, weil sie für mich nicht wirklich echt sind. Als ich ein Kind war, hielt ich sie tatsächlich für große Schönheiten. Heute sehe ich nur mehr das gezeichnete Bild.“
Roy Lichtenstein holt seine Motive nicht nur aus Comics, sondern auch aus Werbeinseraten in Telefonbüchern und Zeitungen. Dabei beschränkt er sich auf ganz einfache Formen und Zeichen. Durch Vergrößerung und Isolierung hebt er massengefertigte Konsumgüter aus dem Alltag der amerikanischen Mittelklasse ins Zentrum relativ groß angelegter Bilder. Beispiele dafür sind in Schwarz-Weiß „Vergrößerungsglas“(1963) oder „Große Schnurrolle“(1963), in Farbe „Spray“(1962), eine rote Sprühdose, bedient von einer Hand mit ebenso roten Fingernägeln.
Schon 1940 machte der Besuch einer Picasso-Wanderausstellung in Cleveland großen Eindruck auf Lichtenstein, der 1945 als Soldat sogar Picasso in Paris besuchen wollte, aber dann nicht den Mut dazu aufbrachte. Mehr als alle anderen Künstler der Pop-Art bezieht Lichtenstein die Kunstgeschichte, die er vor 1961 studiert und unterrichtet hat, in sein Oeuvre ein. Wenn er sich an andere Künstler anlehnt, und das sind viele aus ganz unterschiedlichen Kunstrichtungen bis hin zum Surrealismus, entsteht aber nie ein Plagiat, sondern eine Variation auf seine Art, zum Beispiel bei seiner Nachempfindung von Pablo Picassos Bild „Mandoline und Gitarre“(1924) mit Acryl auf Plexiglas: „Stillleben nach Picasso“(1964). Für die gefühlsarme Bildgattung Stillleben eignet sich Lichtenstein, der stets nüchtern wie ein technischer Zeichner oder Werbegrafiker agiert, besonders gut, wie etwa sein „Stillleben mit Kristallschale“(1972) beweist. Auch das Bild „Glas und Zitrone vor einem Spiegel“(1974) gehört in dieses Genre. Spiegel und Spiegelungen spielen auch im Spätwerk Roy Lichtensteins eine Rolle.
Tapisserien und Skulpturen
Für seine Bilder betreibt Lichtenstein akribische Vorarbeit durch eine Vielzahl von Bleistift- und Buntstiftskizzen und Collagen. Nach dem Malprozess vermeidet er Spuren von Überarbeitungen, da er ab 1962 nicht mehr Öl-, sondern Acrylfarbe einsetzt, die sich zur Gänze in Terpentin auflösen lässt. Fehler können unbemerkt korrigiert und zugleich kann eine völlig gleichmäßige glatte und glänzende Oberfläche hergestellt werden.
Als sich Lichtenstein gegen Mitte der 1960er Jahre der Landschaftsmalerei zuwendet, beschränkt er auch diese Motive meist auf wenige schwarze Konturen und Farbflächen, die wie „Gelber Himmel“(1966) mit realistischen Landschaften nichts zu tun haben und meist menschenleer sind. Er will „schönen Kitsch“schaffen, das gelingt ihm auch beim „Kuss mit Wolke“(1964).
Es gehört zu den Vorzügen der AlbertinaAusstellung, dass sie Roy Lichtenstein auch als Schöpfer von Tapisserien –imposant seine „Tapisserie mit amerikanisch-indianischer Landschaft“(1979-1985) – und Skulpturen würdigt. Auch als Bildhauer pflegt der Künstler seinen Comicstil und sorgt dafür, dass die Objekte, etwa seine „Blondine“(1965) mit einer rot und einer blau gepunkteten Gesichtshälfte wie Massenware aus der Fabrik aussehen.
Auch in seinem Spätwerk, in dem vor allem Wohnlandschaften wie aus einem Katalog und Spiegelungen eine Rolle spielen, bleibt Lichtenstein seinen klaren Flächen und BenDay-Dots treu, zum Beispiel im Siebdruck „Tapete mit Interieur mit blauem Fußboden“(1992) und in der „Badeszene mit Seestern“(1995).
Eine Aussage von Roy Lichtenstein, der am 29. September 1997 in New York gestorben ist, sollte man sich in Erinnerung rufen: „Amerika wurde stärker und härter vom Industrialismus und Kapitalismus getroffen, und seine Werte scheinen noch schräger zu sein als im Rest der Welt. Ich denke, die Bedeutung meiner Arbeit ist, dass sie zeigt, was die ganze Welt demnächst sein wird.“
Amerika wurde stärker und härter vom Industrialismus und Kapitalismus getroffen, und seine Werte scheinen noch schräger zu sein als im Rest der Welt. Ich denke, die Bedeutung meiner Arbeit ist, dass sie zeigt, was die ganze Welt demnächst sein wird. Roy Lichtenstein
Roy Lichtenstein, Albertina, Albertinaplatz 1, 1010 Wien. Noch bis zum 14. Juli 2024.