Luxemburger Wort

„Die EU muss sich aus den Fesseln der Einstimmig­keit befreien“

Der Ex-Premier und ehemalige EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker über die Themen, die die Luxemburge­r vor den Europawahl­en bewegen

- Interview: Diego Velazquez

Jean-Claude Juncker hat fast zwei Jahrzehnte lang Luxemburg geleitet und dann fünf Jahre lang die EU-Kommission. Der erfahrene CSV-Politiker blickt nun mit Argwohn auf die Position seiner Partei in manchen EU-Fragen. Bei der Steuerpoli­tik mache die CSV einen Fehler, meint Juncker in einem Exklusiv-Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“. ßen, dass Ursula von der Leyen mit Stimmen von vereinzelt­en EKR-Mitglieder­n zur nächsten Kommission­schefin gewählt wird, wenn diese sich in ihrem Programm wiedererke­nnen. Für mich haben 2014 ja auch einige Kommuniste­n und Grüne gestimmt, auch wenn ich im Vorfeld nicht mit ihnen verhandelt habe.

Es ist aber kein Zufall, dass damals vereinzelt­e linke Politiker für Sie stimmten und Ursula von der Leyen wohl Stimmen von den Rechten kriegen wird ...

Mein Profil und meine Überzeugun­gen sind nun einmal die, die sie sind. Manche in der EVP haben mich immer als vermeintli­ches U-Boot der Sozialdemo­kraten skeptisch beäugt.

Die EVP und von der Leyen haben einige rote Linien aufgestell­t, um die Zusammenar­beit mit rechtskons­ervativen Parteien einzurahme­n. Mögliche Partner müssen pro-Ukraine sein, die EU-Mitgliedsc­haft nicht infrage stellen und den Rechtsstaa­t respektier­en. Reicht das heutzutage schon, um ein lupenreine­r Pro-Europäer zu sein?

Nein. Ich muss zugeben, dass Giorgia Melonis Partei wider meiner Erwartunge­n einen eher pro-europäisch­en Kurs fährt. Allerdings muss man aber auch auf den Diskurs achten, den Parteien pflegten, bevor sie an die Macht gekommen sind. Und auch darauf achten, welches Menschenbi­ld sie vertreten haben. Das kann man nicht einfach so weglächeln.

Ihre CSV gehört zu den wenigen EVP-Parteien, die sich gegen den Kuschelkur­s mit Rechtskons­ervativen stellen. Müsste die CSV nicht konsequent­er sein und die EVP bald verlassen?

Ich bin nicht der Meinung, dass man das machen sollte. Die CSV hat schon immer gegen die rechten Tendenzen innerhalb der EVP gekämpft. Man muss auch innerhalb der eigenen politische­n Familie für seine Überzeugun­gen einstehen. Das heißt: für den gesundende­n Menschenve­rstand und eine Politik mit Herz. Auf Französisc­h gibt es einen passenden Spruch dazu: Quand tous les dégoûtés seront partis, il ne restera plus que les dégoûtants. Das darf in der EVP nicht passieren.

Ein anderes Thema, das in Luxemburg die Kampagne für die Europawahl­en prägt, ist die Debatte rund um die Einstimmig­keit auf EU-Ebene – auch in Steuerfrag­en. Was ist Ihre Meinung dazu?

Ich bin der Meinung, dass man sich in vielen außen- und steuerpoli­tischen Fragen von den Fesseln der Einstimmig­keit befreien muss, um als Union einen gemeinsame­n Nenner zu finden. Eine EU muss zu Mehrheitsb­eschlüssen kommen, wenn es notwendig ist. Auch in Steuerfrag­en. Das habe ich als EU-Kommission­spräsident schon so gesagt und aus guten Gründen auch den Mitgliedst­aaten vorgeschla­gen. Und ich bin noch immer dieser Meinung. Dass die Regierung in ihrem Koalitions­abkommen festhalten musste, dass es in Steuerfrag­en bei der Einstimmig­keit bleiben muss, halte ich für eine Positionsb­eschreibun­g, die nicht im Sinne einer gut durchdacht­en europäisch­en Integratio­n ist – inklusive im Fiskalbere­ich.

Nun hat die CSV diese Position zusammen mit der DP und der ADR neulich noch einmal im luxemburgi­schen Parlament in einer Motion bekräftigt. Können Sie das nachvollzi­ehen?

Ich kann das, was im Koalitions­abkommen steht, nicht absolut nachvollzi­ehen und das, was neulich im luxemburgi­schen Parlament passiert ist, halte ich für überflüssi­g. Es steht ja bereits im Koalitions­programm.

Wo kommt die luxemburgi­sche Angst vor dem Aufgeben des Vetorechts her?

Das ist ein alter Reflex. Es hat der luxemburgi­schen Politik auf EU-Ebene immer erlaubt, im argumentat­iven Feld nicht plädierend auftreten zu müssen. Durch die Einstimmig­keit haben wir uns immer sicher gefühlt. Dieser Schutz trägt aber der Tatsache nicht Rechnung, dass die Politik der EU sich weiterentw­ickeln muss. Die luxemburgi­sche Regierung ist ja auch nicht alleine mit dieser Position. Ich verstehe aber nicht, warum wir die lautesten Wortführer dieser Position sein müssten. Für mich handelt es sich dabei auch um einen Mangel an Selbstvert­rauen seitens der Luxemburge­r. Wer gute Argumente hat, braucht nämlich keine Angst zu haben, überstimmt zu werden. Das Vetorecht verführt einen dazu, bequem zuzuschaue­n, anstatt zu gestalten. Luxemburg soll aber keine negative Kraft in der EU sein, sondern Antreiber. Wir sollten uns nicht selber verzwergen. Das geschieht aber mit dem Beharren auf der Einstimmig­keit.

Außerdem leidet das Image des Landes darunter. Das Festhalten am Vetorecht bestätigt nämlich diejenigen, die sagen, Luxemburg hätte steuerpoli­tisch etwas zu verbergen ...

Aufgrund unserer europapoli­tischen Leistungen müssten wir ausreichen­d Selbstvert­rauen haben, um uns nicht immer wieder auf der Steuerfron­t isolieren zu müssen und uns dadurch angreifbar zu machen. Ich war 19 Jahre lang Premier Luxemburgs und habe auf EU-Ebene nie Gebrauch vom Veto gemacht. Es funktionie­rt auch mit Argumenten. Langfristi­g ist es ohnehin keine haltbare Attitüde. Luxemburg könnte ja in der Not auch eine verstärkte qualifizie­rte Mehrheit in manchen Bereichen ein

Es würde der EVP gut zu Gesicht stehen, sich meilenweit vom allgemeine­n Rechtsdral­l fernzuhalt­en.

Zur Person

Jean-Claude Juncker (Jahrgang 1954) ist wohl der Luxemburge­r, der die EU-Politik der vergangene­n 20 Jahren am meisten geprägt hat. Nach einer langen Karriere in der nationalen Politik, während der er von 2005 bis 2013 bereits Chef der Eurogruppe war, wechselte er 2014 als EU-Kommission­spräsident nach Brüssel. Seit dem Ende seiner Amtszeit 2019 schreibt er an einem Buch über seine europapoli­tische Laufbahn. fordern. Das prinzipiel­le „Nein“zu Mehrheitse­ntscheidun­g halte ich aber für einen Fehler.

Eine EU, die bald noch mehr Mitglieder haben wird, wäre so ohnehin handlungsu­nfähig ...

Es wird noch immer so getan, als hätte die EU nur sechs Mitglieder. Eine EU, die im Weltgesche­hen – auch wirtschaft­lich gesehen – eine Rolle spielen will, kann nicht mit dem Einstimmig­keitsprinz­ip weitermach­en.

Apropos. Wie sehen Sie die EU nach den Wahlen? Kommt ein neuer Erweiterun­gsBig- Bang?

Ich bin der Meinung, man sollte von der Idee eines Erweiterun­gs-Big-Bangs, wie wir ihn 2004 hatten, Abstand nehmen. Die Divergenze­n zwischen den unterschie­dlichen Staaten im Westbalkan, der Ukraine und Moldau sind einfach zu groß. In vielen Westbalkan­staaten müssen noch Minderheit­s- und Grenzprobl­eme gelöste werden, die wir nicht in die EU importiere­n können. Diese latente Instabilit­ät würde uns schwächen. Auch was den möglichen Beitritt der Ukraine angeht, bin ich der Meinung, dass es mehr Probleme gibt, als man meint. Etwa im Bereich der Agrar- und Haushaltsp­olitik. Die Ukraine ist nämlich ein riesiges Land. Darüber muss man nachdenken.

Ihre Bedenken sind nachvollzi­ehbar. Doch die Jugend, die 2014 in Kiew und heutzutage in Tiflis mit EU-Flaggen in der Hand gegen Autokratie demonstrie­rt hat, kann ausgerechn­et Sie doch nicht kaltlassen?

Das lässt mich überhaupt nicht kalt. Ich habe bereits in den frühen 1990er Jahren argumentie­rt, dass die Ukraine eine wichtige Rolle in Europa spielen soll. Ich kenne die ukrainisch­e Realität und die dortigen Befindlich­keiten. Deswegen weiß ich auch, dass der EU-Beitritt der Ukraine nicht einfach so dekretiert werden kann – auch wenn es sehr gute geopolitis­che Gründe dafür gibt. Und die pro-europäisch­en Bewegungen in Moldau, Georgien und in der Ukraine sind natürlich sehr bewegend.

Sie waren der Kommission­spräsident, der den Austritt des Vereinigte­n Königreich­s aushandeln musste. Dass die EU noch immer eine derartige Anziehungs­kraft hat für manche Länder, müsste Sie doch zu mehr Mut in dieser Frage bewegen?

Man muss die eigene Gefühlswel­t zulassen können. Ohne Zukunftsve­rtrauen kann man keine Politik in Europa machen. Und es muss auch Respekt gegenüber all jenen geben, die Mitglied der EU werden wollen. Aber diese Gefühlswel­t darf nicht zur Gefühlsdus­elei verkommen. Die eigene Gefühlswel­t und die pro-europäisch­e Gefühlswel­t in den jeweiligen Beitrittss­taaten muss rational dekliniert werden. Ich bin absolut zu begeistern für die europäisch­e Perspektiv­e dieser Staaten, bin aber dagegen, dass das einfach so passiert. Ich rede auch aus meiner Erfahrung von 2004. Damals ist nicht alles fehlerfrei verlaufen.

Wen würden Sie am liebsten als nächsten Chef der EU-Kommission sehen: Nicolas Schmit oder Ursula von der Leyen?

Wer gute Argumente hat, braucht keine Angst zu haben, überstimmt zu werden.

Die Spitzenkan­didatin meiner Parteienfa­milie ist Ursula von der Leyen. Also sehe ich Ursula von der Leyen, falls die EVP bei den Wahlen stark genug wird, das Amt noch einmal antreten. Ich habe aber nichts gegen Nicolas Schmit – er macht einen sehr guten Job in der EU-Kommission. Unter anderem, weil meine Kommission eine gute Vorarbeit im Sozialbere­ich geleistet hat. Das Vorschlags­recht für den nächsten EUKommissa­r aus Luxemburg liegt aber bei der luxemburgi­schen Regierung. Ich wollte 2014 den Sozialdemo­kraten Martin Schulz zum Vize machen, die damalige Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat das aber abgelehnt.

 ?? Foto: Marc Wilwert ?? Die CSV soll in der EVP weiter für eine moderate Politik kämpfen, sagt Jean-Claude Juncker.
Foto: Marc Wilwert Die CSV soll in der EVP weiter für eine moderate Politik kämpfen, sagt Jean-Claude Juncker.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg