Die Ameisen-Menschen
Gemeinsam sind sie stark – Bei der Muixeranga entstehen beeindruckende Menschenpyramiden
Eng drängen sich die Männer und Frauen zusammen. Sie formen eine Pinya (Zapfen), das Fundament des menschlichen Prachtbaus, der innerhalb von wenigen Minuten vor den Augen der staunenden Zuschauerschaft errichtet wird. Laute, traditionelle Musik – bestehend aus Trommelschlägen und dem Quaken einer Dolçaina, einer archaischen Flöte – begleitet die Darbietung.
Die Artisten von Muixeranga d’Alacant bauen Menschenpyramiden. Gegründet wurde die Akrobaten-Gruppe erst 2014, erzählt Wer unten im engen Getümmel der Pinya steht, kriegt von der fertigen Figur nicht allzu viel mit David Belda. Der Alicantino stützt in der äußersten Reihe der Pinya die entstehende Konstruktion. „Ich habe mich schon seit langem für den akrobatischen Tanz interessiert. Schließlich konnten wir mit der Unterstützung von Artisten der berühmten Muixeranga-Truppe aus Algemesí eine eigene Gruppe in Alicante auf die Beine stellen.“
In Algemesí, einer Kleinstadt in der Provinz Valencia, so weiß Belda, liegt die Wiege der Muixeranga. Seit dem 13. Jahrhundert werden dort Menschenpyramiden errichtet. Seit 1733 ist die Muixeranga ein fester Bestandteil der Feier zu Ehren der Jungfrau der Gesundheit. Die Tradition, die vermutlich von den Mauren stammt, verbreitete sich im ganzen Land Valencia und auf weiten Teilen der iberischen Halbinsel. Heute ist insbesondere die katalanische Variante, die Castells, weltberühmt.
Innerhalb von nur zwei Jahren ist es Gründungsmitglied Belda und seinen Kameraden gelungen, eine 55köpfige Truppe zusammenzustellen. „Die Muixeranga erlebt zurzeit eine Wiedergeburt“, ist der junge, kräftig gebaute Mann überzeugt. In den letzten zehn Jahren seien im ganzen Land Valencia neue Gruppen ent- standen.
Einerseits liege dies an den sozialen Medien, die es einfacher machen, Gleichgesinnte zu finden. Andererseits finde seit dem Ende des Franco-Regimes eine Rückbesinnung auf die valencianischen Traditionen statt. Während der Diktatur wurden die Muixerangas nur bei religiösen Festen aufgeführt. Nach Francos Tod konnte sich die Muixeranga von der Kirche emanzipieren und gewann infolgedessen wieder an Popularität, insbesondere bei jungen Leuten. „Dazu kommt, dass in der valencianischen Politik ein neuer Wind weht“, meint Belda. „Unsere Landesregierung fördert die einheimischen Traditionen, wie auch unsere Sprache.“
Obwohl die Muixeranga eine anspruchsvolle Kunst ist, ist die Artistentruppe aus Alicante stark durchmischt. „Wir nehmen grundsätzlich alle auf, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Gewicht“, erzählt Belda. Der älteste Mitstreiter sei knapp über 60. Die MuixerangaTruppe von Pego habe aber sogar ein Mitglied, das 79 Jahre auf dem Buckel habe.
„Muixeranguers müssen auch keine Muskelprotze sein“, meint Belda. Die Stärke geht eben nicht von den Einzelnen aus, sondern von der Gemeinschaft. Nur in eine Gruppe integrieren müsse man sich eben können. Für Egoisten und Selbstdarsteller sei es naturgemäß schwierig, sich in eine Muixeranga einzugliedern, meint der Akrobat Belda. Komplizierte Figuren Auf Kommando der Mestra, der Direktorin der Truppe, klettern drei weitere wagemutige Muixeranguers auf die Schultern ihrer Kumpanen. Alle stützen sich gegenseitig. Dutzende Hände ragen aus der Pinya in die Höhe und helfen, den rasch entstehenden Turm zu stabilisieren. Die Akrobaten tragen weiße Hosen und blaue Hemden – die Farben der Stadt Alicante – sowie einen schwarzen Stoff-Gurt. Diese Bauchbinde schützt die Lendenwirbel der Artisten und ermöglicht ihnen, sich an ihren athlethischen Kameraden festzuhalten und an ihnen hochzuklettern.
Geschickt balancierend positioniert sich Pau Chacón auf der Pi
nya. Der 39-Jährige ist Segon, das heißt, er steht auf der zweiten Etage des menschlichen Turms. Die Gruppe Muixeranga d’Alacant baut Figuren mit maximal vier Stockwerken. Das liegt vor allem daran, dass die junge Artistentruppe mit 55 Mitgliedern noch relativ klein ist, erzählt Chacón. Während es für die einfachste Figur nur acht Muixeran
guers braucht, muss die Basis bei mehr Stockwerken überproportional größer werden. Für die Sisena, die mit sechs Stockwerken höchste Muixeranga-Figur, sind beispielsweise mindestens 150 Artisten notwendig, damit die Basis stabil steht. Deshalb können nur die größten Truppen, wie die aus Algemesí, solche Figuren aufstellen. „Wir hoffen, dass unsere Gruppe noch weiteren Zuwachs bekommt und wir dann höhere Türme bauen können“, erzählt Akrobat Chacón enthusiastisch. Laufend studiert die Artisten-Truppe neue, immer atemberaubendere Figuren ein. Alles für die Einheit Sobald Pau Chacón und die anderen Segons stabil stehen, klettert flink eine weitere Muixeranguera auf ihre Schultern. Die Mestra stolziert wie eine Feldmarschallin um die Pyramide herum und gibt der Truppe Kommandos und motivierende Zurufe. „Achtung! Ein bisschen weiter nach hinten! Gut so!“, ruft die junge Frau, als die Figur für einen kurzen Augenblick ein wenig in Schieflage gerät. Wie eine Architektin koordiniert sie das Bauwerk von außen. „Sie ist die Einzige, die die Übersicht hat und ihre Funktion ist unentbehrlich“, erklärt Chacón. Nur die Mestra sieht, wenn die Formation aus dem Gleichgewicht kommt oder gar umzukippen
droht. Die einzelnen Akrobaten bekommen nämlich als Teil der Figur vom Gesamtwerk nicht viel mit. „Manchmal merkt man nicht einmal, wer gerade auf wessen Schultern steht oder wie viele Etagen die Konstruktion bereits hat“, erzählt der leidenschaftliche Muixeran
guer Chacón. „Vor allem im eng zusammengedrückten Getümmel der Pinya kriegt man nicht viel mit“, ergänzt sein Kumpane David Belda.
Die einzelnen Artisten gehen dabei voll und ganz in der Gruppe auf. Es ist wohl schwierig einen anderen Sport zu finden, bei dem der Einzelne so wenig und die Gemeinschaft so viel zählt. „Selbstverständlich ist Teamarbeit und Vertrauen in die Kameraden essenziell, damit der Turmbau erfolgreich ist“, erklärt Pau Chacón. Ebenfalls wichtig sei eine gute Kommunikation innerhalb der Truppe. Man müsse lernen, aufei-