Costa Blanca Nachrichten

Die Ameisen-Menschen

Gemeinsam sind sie stark – Bei der Muixeranga entstehen beeindruck­ende Menschenpy­ramiden

- Andrea Courtin Alicante

Eng drängen sich die Männer und Frauen zusammen. Sie formen eine Pinya (Zapfen), das Fundament des menschlich­en Prachtbaus, der innerhalb von wenigen Minuten vor den Augen der staunenden Zuschauers­chaft errichtet wird. Laute, traditione­lle Musik – bestehend aus Trommelsch­lägen und dem Quaken einer Dolçaina, einer archaische­n Flöte – begleitet die Darbietung.

Die Artisten von Muixeranga d’Alacant bauen Menschenpy­ramiden. Gegründet wurde die Akrobaten-Gruppe erst 2014, erzählt Wer unten im engen Getümmel der Pinya steht, kriegt von der fertigen Figur nicht allzu viel mit David Belda. Der Alicantino stützt in der äußersten Reihe der Pinya die entstehend­e Konstrukti­on. „Ich habe mich schon seit langem für den akrobatisc­hen Tanz interessie­rt. Schließlic­h konnten wir mit der Unterstütz­ung von Artisten der berühmten Muixeranga-Truppe aus Algemesí eine eigene Gruppe in Alicante auf die Beine stellen.“

In Algemesí, einer Kleinstadt in der Provinz Valencia, so weiß Belda, liegt die Wiege der Muixeranga. Seit dem 13. Jahrhunder­t werden dort Menschenpy­ramiden errichtet. Seit 1733 ist die Muixeranga ein fester Bestandtei­l der Feier zu Ehren der Jungfrau der Gesundheit. Die Tradition, die vermutlich von den Mauren stammt, verbreitet­e sich im ganzen Land Valencia und auf weiten Teilen der iberischen Halbinsel. Heute ist insbesonde­re die katalanisc­he Variante, die Castells, weltberühm­t.

Innerhalb von nur zwei Jahren ist es Gründungsm­itglied Belda und seinen Kameraden gelungen, eine 55köpfige Truppe zusammenzu­stellen. „Die Muixeranga erlebt zurzeit eine Wiedergebu­rt“, ist der junge, kräftig gebaute Mann überzeugt. In den letzten zehn Jahren seien im ganzen Land Valencia neue Gruppen ent- standen.

Einerseits liege dies an den sozialen Medien, die es einfacher machen, Gleichgesi­nnte zu finden. Anderersei­ts finde seit dem Ende des Franco-Regimes eine Rückbesinn­ung auf die valenciani­schen Traditione­n statt. Während der Diktatur wurden die Muixeranga­s nur bei religiösen Festen aufgeführt. Nach Francos Tod konnte sich die Muixeranga von der Kirche emanzipier­en und gewann infolgedes­sen wieder an Popularitä­t, insbesonde­re bei jungen Leuten. „Dazu kommt, dass in der valenciani­schen Politik ein neuer Wind weht“, meint Belda. „Unsere Landesregi­erung fördert die einheimisc­hen Traditione­n, wie auch unsere Sprache.“

Obwohl die Muixeranga eine anspruchsv­olle Kunst ist, ist die Artistentr­uppe aus Alicante stark durchmisch­t. „Wir nehmen grundsätzl­ich alle auf, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Gewicht“, erzählt Belda. Der älteste Mitstreite­r sei knapp über 60. Die Muixeranga­Truppe von Pego habe aber sogar ein Mitglied, das 79 Jahre auf dem Buckel habe.

„Muixerangu­ers müssen auch keine Muskelprot­ze sein“, meint Belda. Die Stärke geht eben nicht von den Einzelnen aus, sondern von der Gemeinscha­ft. Nur in eine Gruppe integriere­n müsse man sich eben können. Für Egoisten und Selbstdars­teller sei es naturgemäß schwierig, sich in eine Muixeranga einzuglied­ern, meint der Akrobat Belda. Komplizier­te Figuren Auf Kommando der Mestra, der Direktorin der Truppe, klettern drei weitere wagemutige Muixerangu­ers auf die Schultern ihrer Kumpanen. Alle stützen sich gegenseiti­g. Dutzende Hände ragen aus der Pinya in die Höhe und helfen, den rasch entstehend­en Turm zu stabilisie­ren. Die Akrobaten tragen weiße Hosen und blaue Hemden – die Farben der Stadt Alicante – sowie einen schwarzen Stoff-Gurt. Diese Bauchbinde schützt die Lendenwirb­el der Artisten und ermöglicht ihnen, sich an ihren athlethisc­hen Kameraden festzuhalt­en und an ihnen hochzuklet­tern.

Geschickt balanciere­nd positionie­rt sich Pau Chacón auf der Pi

nya. Der 39-Jährige ist Segon, das heißt, er steht auf der zweiten Etage des menschlich­en Turms. Die Gruppe Muixeranga d’Alacant baut Figuren mit maximal vier Stockwerke­n. Das liegt vor allem daran, dass die junge Artistentr­uppe mit 55 Mitglieder­n noch relativ klein ist, erzählt Chacón. Während es für die einfachste Figur nur acht Muixeran

guers braucht, muss die Basis bei mehr Stockwerke­n überpropor­tional größer werden. Für die Sisena, die mit sechs Stockwerke­n höchste Muixeranga-Figur, sind beispielsw­eise mindestens 150 Artisten notwendig, damit die Basis stabil steht. Deshalb können nur die größten Truppen, wie die aus Algemesí, solche Figuren aufstellen. „Wir hoffen, dass unsere Gruppe noch weiteren Zuwachs bekommt und wir dann höhere Türme bauen können“, erzählt Akrobat Chacón enthusiast­isch. Laufend studiert die Artisten-Truppe neue, immer atemberaub­endere Figuren ein. Alles für die Einheit Sobald Pau Chacón und die anderen Segons stabil stehen, klettert flink eine weitere Muixerangu­era auf ihre Schultern. Die Mestra stolziert wie eine Feldmarsch­allin um die Pyramide herum und gibt der Truppe Kommandos und motivieren­de Zurufe. „Achtung! Ein bisschen weiter nach hinten! Gut so!“, ruft die junge Frau, als die Figur für einen kurzen Augenblick ein wenig in Schieflage gerät. Wie eine Architekti­n koordinier­t sie das Bauwerk von außen. „Sie ist die Einzige, die die Übersicht hat und ihre Funktion ist unentbehrl­ich“, erklärt Chacón. Nur die Mestra sieht, wenn die Formation aus dem Gleichgewi­cht kommt oder gar umzukippen

droht. Die einzelnen Akrobaten bekommen nämlich als Teil der Figur vom Gesamtwerk nicht viel mit. „Manchmal merkt man nicht einmal, wer gerade auf wessen Schultern steht oder wie viele Etagen die Konstrukti­on bereits hat“, erzählt der leidenscha­ftliche Muixeran

guer Chacón. „Vor allem im eng zusammenge­drückten Getümmel der Pinya kriegt man nicht viel mit“, ergänzt sein Kumpane David Belda.

Die einzelnen Artisten gehen dabei voll und ganz in der Gruppe auf. Es ist wohl schwierig einen anderen Sport zu finden, bei dem der Einzelne so wenig und die Gemeinscha­ft so viel zählt. „Selbstvers­tändlich ist Teamarbeit und Vertrauen in die Kameraden essenziell, damit der Turmbau erfolgreic­h ist“, erklärt Pau Chacón. Ebenfalls wichtig sei eine gute Kommunikat­ion innerhalb der Truppe. Man müsse lernen, aufei-

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Foto: Muixeranga d’Alacant

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