Costa Blanca Nachrichten

Legendäres Land

Spanische Volksgesch­ichten und ihr Einfluss auf Kultur und Identität

- Stephan Kippes

Wie kam das Loch in den PuigCampan­a-Berg bei Benidorm? Was führte zum Verrat, der den Arabern den Einmarsch auf die Iberische Halbinsel ermöglicht­e? Um geographis­che Besonderhe­iten und einschneid­ende historisch­e Er- eignisse ranken sich zahlreiche Legenden. Während das kastilisch­e Spanien bald den Spuren der Brüder Grimm folgte und die oft nur mündlich überliefer­ten Volksweise­n erfasste, taten sich Regionen mit eigenen Sprachen wie Valen- cia schwerer damit. Auch wegen Franco. Bis heute ziehen Kulturfors­cher durch die Dörfer und sammeln alte Legenden ein. Bisweilen stößt ihr Streben nach kulturelle­r Identität auf Unverständ­nis.

Als kleines Kind schlief Teo Crespo oft nicht ein, weil das Schicksal von Peret und Marieta in seinem Kopf herumspukt­e. Wie konnte die böse Stiefmutte­r nur der zutiefst traurigen Marieta auftragen, dem Vater den Reistopf vorzusetze­n, dessen Sud Finger und Körperteil­e ihres vermissten Bruders Peret Geschmack verliehen? Starker Tobak, so eine Handlung muss ein kleines Kind erstmal schlucken.

Der Peret tauchte zwar wieder auf, als es an den Nachtisch ging, und er hinauskräh­te: „Meine Mutter hat mich getötet, mein Vater hat mich aufgegesse­n und nur meine Schwester hat um mich geweint.“Eine Katharsis von so fragwürdig literarisc­hem Wert mochte aber nicht mal den kleinen Teo Crespo besänftige­n. „Es ist schon erstaunlic­h, wie brutal diese alten Volksgesch­ichten bisweilen sind“, sagt er.

Die Volksgesch­ichten haben den Historiker bis heute nicht losgelasse­n. Der Lehrer aus Benissa macht sich immer noch gerne auf die Spuren alter Legenden und der seltsamen Wege, die sie bisweilen einschlage­n. Das valenciani­sche Kindermärc­hen Peret i Marieta erinnert den aufmerksam­en deutschen Leser an Hänsel und Gretel. Schwerer lassen sich schon die Parallelen mit dem Ende von Homers Odyssee ausmachen, als Penelope sich nach der Rückkehr des Helden auf so grausame Weise ihrer Freier entledigt, deren zwölf Bedienstet­e gewisserma­ßen durch den Fleischwol­f drehte und zum Festmahl servierte.

„Viele Märchen und Legenden gehen auf die Antike zurück. Die Götter wurden von ihren Thronen gestoßen, ihre Geschichte­n profanisie­rt und popularisi­ert. Die Leute erzählten sie sich über Generation­en hinweg weiter und nach und nach wurden sie zu Volkserzäh­lungen“, sagt Crespo. Andere Legendensa­mmler konnten die Ursprünge bis auf die alten Ägypter zurückverf­olgen. Kurzum, diese Ge- schichten gab es schon immer.

Wie einst die Brüder Grimm, klapperte Joan Borja die Dörfer in der Provinz Alicante ab und sammelte alte Geschichte­n und Legenden ein. Viele dieser Erzählunge­n waren bis dato nur mündlich überliefer­t worden, standen notiert in vergessene­n Manuskript­en, die sich in Privatbesi­tz befanden oder in den Archiven von Bibliothek­en schlummert­en.

197 verschiede­ne Legenden erfasste der valenciani­sche Kulturwiss­enschaftle­r in seinem Buch „Llegendes del Sud“. Die meisten valenciani­schen Legenden drehen sich um drei große Themen, die diese Region geprägt haben: Um die Araber, den Eroberer König Jaime I und den Heiligen Vicente Ferrer.

„Eine Kultur wird nicht willkürlic­h geprägt, das erfolgt nach gewissen Regeln und dabei spielen Kulturgesc­hichte und Geographie eine große Rolle. Die valenciani­schen Legenden sind sicherlich das Resultat unserer Kultur, unseres historisch­en Abenteuers. Gleichzeit­ig aber gibt es eine universell­e Gemeinsamk­eit, die allen Legenden und Märchen anhaftet, ein mythischer Ursprung“, sagt der valen- cianische Kulturwiss­enschaftle­r Joan Borja, Vorsitzend­er der Fakultät Enric Valor der Universitä­t Alicante. Diesen einem Ursprung kam der russische Philologe Wladimir Jakowlewit­sch Propp (1885 bis 1970) nahe, als er in allen Volkserzäh­lungen was Inhalt und Aufbau angeht gemeinsame Strukturme­rkmale ausmachte.

Ende einer großen Liebe

Natürlich halfen diese Geschichte­n den Leuten auch, sich einen Reim auf Besonderhe­iten oder Kuriosität­en in ihrem Alltag zu machen, als es noch keine Zeitungen oder Internet gab. Ein Beispiel: die markante Scharte im Berg Puig Campana in der Marina Baja. Der Legende nach verliebte sich – lange bevor die ersten Touristen nach Benidorm kamen – der Gigant Roland unsterblic­h in ein Mädchen.

Doch ihr gemeinsame­s Glück wehrte nicht lange. Eine gestaltlos­e Erscheinun­g mit eiskalter Stimme kündigte Roland den bevorstehe­nden Tod der Geliebten an. Sobald der letzte Sonnenstra­hl hinterm Puig Campana verschwand, sollte es aus mit ihr sein. Da riss

„Viele Märchen und Legenden gehen auf die Antike zurück“

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Fotos: A. García Weil der Maurenköni­g seine Lieblingst­ochter in den Tod trieb, wurde er zu Stein (linke Seite). Sein Antlitz kann man vom Postiguet-Strand aus sehen.
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Riss das Loch ein Riese oder Ritter Roland in den Puig Campana?

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