Legendäres Land
Spanische Volksgeschichten und ihr Einfluss auf Kultur und Identität
Wie kam das Loch in den PuigCampana-Berg bei Benidorm? Was führte zum Verrat, der den Arabern den Einmarsch auf die Iberische Halbinsel ermöglichte? Um geographische Besonderheiten und einschneidende historische Er- eignisse ranken sich zahlreiche Legenden. Während das kastilische Spanien bald den Spuren der Brüder Grimm folgte und die oft nur mündlich überlieferten Volksweisen erfasste, taten sich Regionen mit eigenen Sprachen wie Valen- cia schwerer damit. Auch wegen Franco. Bis heute ziehen Kulturforscher durch die Dörfer und sammeln alte Legenden ein. Bisweilen stößt ihr Streben nach kultureller Identität auf Unverständnis.
Als kleines Kind schlief Teo Crespo oft nicht ein, weil das Schicksal von Peret und Marieta in seinem Kopf herumspukte. Wie konnte die böse Stiefmutter nur der zutiefst traurigen Marieta auftragen, dem Vater den Reistopf vorzusetzen, dessen Sud Finger und Körperteile ihres vermissten Bruders Peret Geschmack verliehen? Starker Tobak, so eine Handlung muss ein kleines Kind erstmal schlucken.
Der Peret tauchte zwar wieder auf, als es an den Nachtisch ging, und er hinauskrähte: „Meine Mutter hat mich getötet, mein Vater hat mich aufgegessen und nur meine Schwester hat um mich geweint.“Eine Katharsis von so fragwürdig literarischem Wert mochte aber nicht mal den kleinen Teo Crespo besänftigen. „Es ist schon erstaunlich, wie brutal diese alten Volksgeschichten bisweilen sind“, sagt er.
Die Volksgeschichten haben den Historiker bis heute nicht losgelassen. Der Lehrer aus Benissa macht sich immer noch gerne auf die Spuren alter Legenden und der seltsamen Wege, die sie bisweilen einschlagen. Das valencianische Kindermärchen Peret i Marieta erinnert den aufmerksamen deutschen Leser an Hänsel und Gretel. Schwerer lassen sich schon die Parallelen mit dem Ende von Homers Odyssee ausmachen, als Penelope sich nach der Rückkehr des Helden auf so grausame Weise ihrer Freier entledigt, deren zwölf Bedienstete gewissermaßen durch den Fleischwolf drehte und zum Festmahl servierte.
„Viele Märchen und Legenden gehen auf die Antike zurück. Die Götter wurden von ihren Thronen gestoßen, ihre Geschichten profanisiert und popularisiert. Die Leute erzählten sie sich über Generationen hinweg weiter und nach und nach wurden sie zu Volkserzählungen“, sagt Crespo. Andere Legendensammler konnten die Ursprünge bis auf die alten Ägypter zurückverfolgen. Kurzum, diese Ge- schichten gab es schon immer.
Wie einst die Brüder Grimm, klapperte Joan Borja die Dörfer in der Provinz Alicante ab und sammelte alte Geschichten und Legenden ein. Viele dieser Erzählungen waren bis dato nur mündlich überliefert worden, standen notiert in vergessenen Manuskripten, die sich in Privatbesitz befanden oder in den Archiven von Bibliotheken schlummerten.
197 verschiedene Legenden erfasste der valencianische Kulturwissenschaftler in seinem Buch „Llegendes del Sud“. Die meisten valencianischen Legenden drehen sich um drei große Themen, die diese Region geprägt haben: Um die Araber, den Eroberer König Jaime I und den Heiligen Vicente Ferrer.
„Eine Kultur wird nicht willkürlich geprägt, das erfolgt nach gewissen Regeln und dabei spielen Kulturgeschichte und Geographie eine große Rolle. Die valencianischen Legenden sind sicherlich das Resultat unserer Kultur, unseres historischen Abenteuers. Gleichzeitig aber gibt es eine universelle Gemeinsamkeit, die allen Legenden und Märchen anhaftet, ein mythischer Ursprung“, sagt der valen- cianische Kulturwissenschaftler Joan Borja, Vorsitzender der Fakultät Enric Valor der Universität Alicante. Diesen einem Ursprung kam der russische Philologe Wladimir Jakowlewitsch Propp (1885 bis 1970) nahe, als er in allen Volkserzählungen was Inhalt und Aufbau angeht gemeinsame Strukturmerkmale ausmachte.
Ende einer großen Liebe
Natürlich halfen diese Geschichten den Leuten auch, sich einen Reim auf Besonderheiten oder Kuriositäten in ihrem Alltag zu machen, als es noch keine Zeitungen oder Internet gab. Ein Beispiel: die markante Scharte im Berg Puig Campana in der Marina Baja. Der Legende nach verliebte sich – lange bevor die ersten Touristen nach Benidorm kamen – der Gigant Roland unsterblich in ein Mädchen.
Doch ihr gemeinsames Glück wehrte nicht lange. Eine gestaltlose Erscheinung mit eiskalter Stimme kündigte Roland den bevorstehenden Tod der Geliebten an. Sobald der letzte Sonnenstrahl hinterm Puig Campana verschwand, sollte es aus mit ihr sein. Da riss
„Viele Märchen und Legenden gehen auf die Antike zurück“