Zirkel der Reichen
Treffpunkt für Kultur und Bildung – Alcoys Círculo Industrial feiert sein 150-jähriges Bestehen
Im Jugendstilbau in der Calle San Nicolás 19 in Alcoy geben sich Bürgertum und Mittelstand seit 1868 die Klinke in die Hand. Der Círculo Industrial ist der kulturelle Treffpunkt für Industrielle, Geschäftsleute, Anwälte. In diesem Jahr feiert die Gesellschaft 150. Geburtstag.
Ratternde und zischende Maschinen, qualmende Schornsteine, rußgeschwärzte Gesichter. Im 19. Jahrhundert war Alcoy das industrielle Herz Valencias und eines der wichtigsten Produktionszentren ganz Spaniens für Textilien, Papier und die Metallurgie. Das wohlhabende Bürgertum – vornehmlich Industrielle und Fabrikeigner – drückte der Stadt seinen eleganten Stempel auf, der bis heute in vielen Gebäuden zu sehen ist. Und es traf sich in der Calle Nicolás 19, dem Sitz des Círculo Industrial de Alcoy. Die Kulturgesellschaft feiert in diesem Jahr ihr 150-jähriges Bestehen.
„Die Gründung des Círculo Industrial war keine spontane Idee“, erklärt der aktuelle Präsident und Anwalt Eduardo Segura Espí. „Das 19. Jahrhundert war eine Zeit der Vereinsbewegung, auch in Alcoy gab es etliche davon.“Wie genau die Geburtsstunde aussah, sei nicht bekannt, da alle Dokumente der Gesellschaft im Bürgerkrieg verloren gingen. „Aber wir glauben, dass sich Mitglieder des damaligen Casinos von Alcoy sowie eines Gremiums der Textilindustrie zusammentaten, um 1868 den Círculo Industrial zu gründen.“
Seitdem diente die Gesellschaft als Treffpunkt für Alcoys Bürger- tum und Mittelstand. Hier gingen Industrielle und Geschäftsleute, aber auch Ärzte, Anwälte, Techniker und Architekten ein und aus. „Sie gründeten den Círculo auch, um, ich will nicht sagen Geheimnisse, aber doch Angelegenheiten ihrer Industrien auszutauschen und Verträge auszuhandeln“, meint Segura Espí.
Von der Bedeutung der Alcoyaner Industrie zeugt auch eine Anekdote, die der Anwalt einmal gehört hat. „Man sagte mir, Hunger hat es während des Bürgerkriegs auf der Seite der Nationalisten nicht gegeben“, meint der Präsident. „Aber ge- fehlt hat es ihnen an drei Dingen: Nähgarn aus Katalonien, Kabeljau aus Schottland und Zigarettenpapier aus Alcoy.“Nach dem Krieg, ab der Mitte des 20. Jahrhunderts, kaufte die Alcoyaner Bourgeoisie zunehmend Häuser an der Küste der Provinz Alicante, um dort die Wochenenden und den Sommer zu verbringen. „An den Stränden erkannten sie uns durch zwei Dinge als Alcoyaner“, erzählt Segura Espí. „Zum einen an der Art, wie wir Valenciano sprachen, zum anderen daran, dass wir mit neuem Geld bezahlten, weil die Banco de España in Alcoy einen Sitz hatte.“
Das Emblem des Círculo Industrial – eine Biene über drei Bienenstöcken und einer Spindel – prangt auch an der schönen Jugendstilfassade mit Wiener Einfluss, die 1904 von dem Architekten Timoteo Briet entworfen wurde. Es steht für den Fleiß und die Einigkeit im menschlichen Wirken.
Und es gab Zeiten, da glich das Gebäude in der Calle San Nicolás selbst einem Bienenstock. Wie einer Mitgliedsurkunde vom 19. April 1890 – unterzeichnet vom damaligen Präsidenten der Gesellschaft und Bürgermeister Alcoys Fabián Pascual – zu entnehmen ist, war Federico Pérez Frau Mitglied Nr. 1.217 des Círculo Industrial. Wer etwas auf sich hielt in Alcoy, der kam an der Gesellschaft nicht
„Der Círculo Industrial hält sich jeder politischen oder religiösen Aktivität fern“
vorbei. „Zahlreiche Vorsitzende waren auch Bürgermeister der Stadt“, erklärt Segura.
In den Gründungsstatuten heißt es: „Ziel des Círculo Industrial ist es, seinen Mitgliedern ein Zentrum der Zusammenkunft, Bildung und Freizeit zu geben, das die gegenseitige Wertschätzung zwischen ihnen fördert.“Hervorgehoben wird darin auch „die entschlossene und konstante Unterstützung des kulturellen und lehrreichen Wirkens der Gesellschaft“, wobei sie sich „immer fern von jeder politischen oder religiösen Aktivität hält und die Gesetze des Landes erfüllt“.
Düsteres Kapitel
Politische Diskussionen und Veranstaltungen sind auch heute noch tabu. „Natürlich können wir mal über Politik reden“, sagt der Präsident, „aber Podiumsdiskussionen, politische Akte oder Meetings wollen wir hier nicht.“Heute kämen die Mitglieder des Círculo aus dem gesamten politischen Spektrum, „bis hin zu Kommunisten“.
Trotz dieser apolitischen Haltung wurde der Círculo während des Spanischen Bürgerkriegs Schauplatz eines besonders düsteren Kapitels. „Wir haben keine sicheren Daten, alles, was wir wissen, ist der lokalen Presse entnommen“, erklärt der Anwalt. Demnach sei der Círculo während des Bürgerkriegs von einer Gewerkschaft konfisziert worden. „Sie ris- sen nicht nur alles an sich, hier im Kohlekeller des Círculo wurden auch neun Mitglieder ermordet, und das mit Keulenschlägen.“
Zwei Geistliche, vier Industrielle, ein Arzt, ein Anwalt und ein Rathausangestellter wurden massakriert. „Die Fabrikeigentümer Alcoys waren zwar liberaler als andernorts und entgegenkommender gegenüber ihren Arbeitern, aber natürlich repräsentierten sie das Bürgertum“, führt der heutige Präsident die Gründe für den brutalen Mord auf. Eines der Opfer soll außerdem Mitglied der faschistischen Falange gewesen sein.
Es sei nicht gut, diese Geschichte wiederaufzuwärmen, meint der Präsident. Auch im Internet findet sich nur wenig über das Massaker, das mit aller Wahrscheinlichkeit von Anarchisten verübt wurde. „Sie verbrannten das gesamte Archiv, wir besitzen kein Dokument aus den Jahren vor 1939.“Um zu wissen, wer in welchem Jahr Präsident des Círculo war, hätten die Mitglieder die Archive der Lokalpresse und andere Quellen durchforsten müssen.
Belegt ist aber, dass der Círculo am 1. Januar 1868 gegründet wurde, „und seit diesem Tag sind wir hier in der Calle San Nicolás 19“, meint Eduardo Segura Espí stolz. „Zunächst waren wir zur Miete, bevor das Gebäude 1893 gekauft wurde.“Danach wurde es im Laufe der Geschichte umgebaut, er- weitert, reformiert. „Im Bürgerkrieg wurde der heutige Salón largo 1938 durch eine Bombe beschädigt, die in der Nähe explodierte, 1941 wurde er schließlich mit einer höheren Decke wieder aufgebaut“, erzählt Segura. Dann betritt er den Salón rotonda. „Ich habe viele Casinos in Spanien gesehen, aber einen runden Saal habe ich nirgends gefunden“, sagt der Präsident über den imposanten Raum mit dem bunten Mosaikfenster in der Mitte. „Der Raum war innen ursprünglich ganz aus Holz, aber der Holzwurm fraß ihn auf, weshalb er 1953 komplett neu gemacht wurde.“
150 Jahre nach der Gründung der Gesellschaft ist es ruhiger – sowohl in den Fabriken als auch im Círculo Industrial. Heute kommen hauptsächlich Senioren hierher, um Zeitung zu lesen, Kaffee zu trinken oder Domino zu spielen. Doch noch immer zählt die Gesellschaft rund 1.400 Mitglieder. Und das muss man als Kulturverein erst einmal schaffen.
Das Gebäude des Círculo Industrial in der Calle San Nicolás 19 kann besichtigt werden. Es ist Teil der Ruta del Modernismo des Tourismusamts von Alcoy und täglich von 9 bis 14 Uhr geöffnet. Weitere Informationen im Internet auf www. alcoyturismo.com.