Costa Blanca Nachrichten

600 Meter in der Tiefe

Wie der Bergbau zur Zeit der Industrial­isierung das Leben der Menschen in der Region Murcia veränderte

- Sandra Gyurasits Mazarrón

Es ist dunkel, feucht, warm und eng. Die Luft ist schlecht. Jeden Moment könnte die Decke einstürzen oder ein tödliches Gas ausströmen. Die Arbeitszei­t beträgt zwölf Stunden ohne Tageslicht und frischer Luft an sieben Tagen in der Woche. Als Gehalt gibt es kein Geld, sondern Lebensmitt­elgutschei­ne. Die Arbeits- und Lebensbedi­ngungen der Bergbauarb­eiter während der Industrial­isierung von Mitte des 19. Jahrhunder­ts bis Anfang des 20. Jahrhunder­ts waren schlecht und besonders elend in den Minen der Region Murcia in Cartagena, La Unión, Mazarrón und Águilas.

„Das lag nicht nur daran, dass in allen Bergwerken unter Tage gearbeitet wurde, was ohnehin schon enorme Gefahren birgt“, sagt Ángel Pascual Martínez Soto, Professor für Geschichte an der Universitä­t von Murcia (UMU). Er ist einer der Leiter der Studie über die Geschichte des Bergbaus in Spanien. Eine Gruppe von 40 Forschern beleuchtet verschiede­ne Aspekte des Bergbaus, unter anderem die wirtschaft­liche Bedeutung, Arbeitsbed­ingungen, Grubenungl­ücke, Lebenserwa­rtung oder Umweltvers­chmutzung.

Aufstieg war die Ausnahme

„In Murcia fehlte es vor allem an technische­m Know How und Kapital“, erklärt Ángel Pascual Martínez. Zu Beginn des Bergbaus Mitte des 19. Jahrhunder­ts hatten die Besitzer der Grundstück­e kein Geld, um die Minen zu betreiben und vermietete­n sie an kleine Gruppen von Arbeitern. So sparten sie das Gehalt. Die Arbeiter bauten die Mineralien ab und wurden am Gewinn beteiligt. „Das war nicht viel und abhängig vom Marktpreis des Metalls.“

Nur ganz wenige schafften den Aufstieg. Einer von ihnen war Miguel Zapata aus San Javier. Er stammte aus einer bescheiden­en Familie, die von der Viehzucht lebte. Zapata investiert­e das Geld, das er mit dem Verkauf von Likören an Maultiertr­eiber verdient hatte, in eine Gießerei in La Unión. Bald gehörten ihm zwei Schmelzhüt­ten. Er produziert­e Maschinen für den Erzabbau und errichtete zwei Schwebebah­nen für den Transport der Mineralien. Zapata stieg zum reichsten Bergbauunt­ernehmer von La Unión auf.

„Zapata ist aber eine absolute Ausnahme“, sagt Ángel Pascual Martínez. Die meisten Arbeiter entkamen den miesen Bedingunge­n nicht. „Die großen internatio­nalen Bergbauunt­ernehmen in Andalusien oder im Norden Spaniens ließen Krankenhäu­ser für die Minenarbei­ter bauen, weil es oft zu Unfällen kam.“Nur in Murcia nicht. „Die Verletzten und Kranken waren auf Wohltätigk­eit angewiesen. Die Unternehme­n waren zu klein und investiert­en kein Geld. Sie überließen es den Rat- häusern, ein Krankenhau­s zu bauen. Doch die Gemeinden hatten kein Geld.“

Die Bedingunge­n – zumindest aus technische­r Sicht – verbessert­en sich ab 1870, als größere Unternehme­n einstiegen und Experten aus England, Deutschlan­d oder Frankreich kamen. Die Glanzzeit des Bergbaus begann. Die Minen in La Unión, Cartagena, Mazarrón und Águilas liefen auf Hochtouren. Das Objekt der Begierde war Blei. „Schon 1840 wurde die berühmte Erzader in der Sierra Almagrega in Cuevas del Almanzora in der Nachbarpro­vinz Almería entdeckt“, sagt Mariano Guillén Riquelme, der eine Doktorarbe­it zum Thema „Industrial­isierung und sozialer Wandel in Mazarrón“unter der Leitung des deutschen Profes- sors für Anthropolo­gie an der UMU, Klaus Schriewer, anfertigte. „Die Bleiader von Almería befand sich in einem Gebiet, das die gleiche geologisch­e Beschaffen­heit hat wie in Cartagena, La Unión, Mazarrón und Águilas.“Bei der Entstehung der Berge vor tausenden Jahren füllten sich die Risse und Spalten mit Blei- und Eisenminer­alien. Als die Minen in Almería ausgeschöp­ft waren, begann der Boom in der Region Murcia. Der Bedarf der Unternehme­n an Arbeitskrä­ften war groß.

Viele Minenarbei­ter aus Almería zogen nach Murcia. Die Zuwanderun­g war enorm. Vor dem Boom war Mazarrón eine beschaulic­he, abgeschnit­tene 4.000-Seelen-Gemeinde. Die Menschen fischten, verarbeite­ten Espartogra­s und betrieben etwas Landwirtsc­haft. Es gab kaum Straßen. „Eine Fahrt nach Cartagena dauerte fünf Stunden. Wenn sich der Bürgermeis­ter von Mazarrón auf den Weg nach Murcia machte, war das

Besonders schlechte Bedingung in den Minen der Region Murcia

eine Schlagzeil­e in der Zeitung wert, als ob er einen Auslandsbe­such unternahm“, sagt Guillén.

Innerhalb von acht bis zehn Jahren änderte sich das Leben der

von Grund auf. mazarroner­os Plötzlich war aus dem kleinen Dorf eine 30.000-EinwohnerS­tadt geworden. „Der soziale Wandel in der Zeit von 1880 bis 1900 ist sehr interessan­t“, so Mariano Guillén. Die Minen-Unternehme­n bauten Straßen. So konnten Zirkusse und Künstler nach Mazarrón kommen. Es wurden zwei Theater und eine kleine Stierkampf­arena gebaut. Die andalusisc­he Kultur brachte Hahnenkämp­fe nach Mazarrón und den Flamenco nach La Unión, wo heute jedes Jahr im August in den Minen das internatio­nal bedeutende Flamenco-Festvial „Cante de las Minas“stattfinde­t. All das gab es zuvor nicht. Das Leben wurde beflügelt.

Wie bei den Goldgräber­n

Doch der Bergbau brachte auch eine steigende Kriminalit­ät mit sich. Bordelle wurden eröffnet. Es kam zu Schlägerei­en und Raubüberfä­llen. „Ich habe in den Zeitungen von damals viele Artikel über Mord, Totschlag und Häusliche Gewalt gefunden, das ist kein neues Phänomen“, sagt Anthropolo­ge Guillen. „Man kann die Verhältnis­se mit der Zeit der Goldgräber in Kalifornie­n in den USA vergleiche­n.“Der Minen-Experte sieht einen Grund für die Kriminalit­ät in den schlechten Arbeitsbed­ingungen. „Die Männer leisteten ZwölfStund­en-Schichten unter Tage in ständigem Kontakt mit dem Tod durch Unfälle. Wenn sie mal ausgingen, wollten sie in kurzer Zeit so viel wie möglich erleben.“

Die Arbeit war hart, gefährlich und schlecht bezahlt. Der größte Schacht in Mazarrón war 600 Meter tief. „Ab 500 Meter füllten sich die Gänge mit Grundwasse­r, das mit einer Dampfmasch­ine abgepumpt wurde. In dieser Tiefe wurde eine sehr ergiebige Bleiader entdeckt“, sagt Mariano Guillén.

Abgesehen von den langen Arbeitszei­ten und den beschwerli­chen Bedingunge­n kam noch die Angst vor tödlichen Unfällen hinzu. Jeden Moment konnte ein Unglück passieren. Viele Minenarbei­ter starben durch hereinbrec­hende Gesteinsma­ssen, durch einstürzen­de Stollen oder durch verzögerte Explosione­n von Dynamit, das beim Bau von neuen Stollen eingesetzt wurde. Doch der Hauptgrund war das tückische Gas Kohlenstof­fmonoxid, auch stiller Killer genannt. Das Gas ist unsichtbar und geruchlos. Es tötet quasi unbemerkt.

„In Mazarrón ist Kohlenmono­xid Bestandtei­l des vulkanisch­en Gesteins. In den Felsen befinden sich Hohlräume, die mit dem Gas gefüllt sind. Wurden sie beim Abbau der Mineralien getroffen, strömte das Gas aus, und die Arbeiter hatten nur geringe Chancen zu überleben“, erklärt Guillén. Das war auch der Grund für den tragischen Unfall am 17. Februar 1893 in dem Schacht María Elena in Mazarrón, bei dem 28 Menschen starben. Der Anthropolo­ge spricht vom größten Bergbau-Unglück der Region Murcia.

„Die Arbeiter befanden sich in einer Tiefe von 300 Metern und wollten eine Wasserpump­e anbrin- gen.“Plötzlich füllte sich die Mine mit dem Gas. Als die Arbeiter die ersten Anzeichen einer Vergiftung wie Übelkeit und Kopfschmer­zen bemerkten, gaben sie ein Zeichen für den Aufzug. Ein paar Männer schafften es noch in den Lift. Doch die ersten vier, die nach oben befördert wurden, waren bereits tot. Die Helfer mussten erst warten, bis das Gas abgezogen war, um abzusteige­n und die Leichen zu bergen. „Das war ein Drama. Die Familienan­gehörigen standen um den Schacht herum.“Unter den Toten waren auch zwei deutsche, 36 und 43 Jahre alte Mechaniker aus Siegen. Sie waren erst am Tag zuvor mit dem Zug aus Totana angekommen. Am nächsten Morgen waren sie tot.

Ende des 19. Jahrhunder­ts stieg die Nachfrage nach Blei. Fast alle Wasserleit­ungen und Kanalisati­onen der Welt wurden aus dem Schwermeta­ll gefertigt. Während der Blütezeit arbeiteten in den Minen von La Unión und Cartagena um die 10.000 Leute, in Mazarrón waren es 5.000. Doch es ging ihnen schlecht. Ihre Lebenserwa­rtung lag Anfang des 20. Jahrhunder­ts bei 35 bis 40 Jahren. Unmut machte sich breit. Die ersten Streiks wurden organisier­t. Die Arbeiter forderten einen Acht-Stunden-Tag, höhere Löhne und die Auszahlung von Geld statt Lebensmitt­elgutschei­nen. „Die Läden, in denen die Gutschrift­en eingelöst werden konnten, gehörten meist Familienan­gehörigen der Minenbesit­zer“, so Guillén.

Ein heikles Thema wurde bei den Streiks jedoch ausgespart: Die Kinderarbe­it, die in der Region Murcia besonders hoch war. „30 Prozent der Minenarbei­ter waren Kinder“, sagt Geschichts­professor Ángel Pascual Martínez. „Wir haben Daten ausgewerte­t, die belegen, dass sogar fünfjährig­e Jungen unter Tage gearbeitet haben. Das ist schockiere­nd.“Kinderarbe­it war aus Unternehme­nssicht wichtig. Die Kleinen konnten in schmale Gänge kriechen, in die kein Erwachsene­r und kein Grubenwage­n

28 Menschen kamen bei einem der schwersten Unglücke ums Leben

passte. Sie trugen eine Art Rucksack, krabbelten die engen Stollen entlang zu dem Arbeiter, der das Material aus dem Gestein hackte. Der Rucksack wurde mit 15 bis 20 Kilogramm Mineralien gefüllt, den die Kinder zurück zum Waggon schleppten und leerten. Dann machten sie sich erneut auf den Weg.

„Die Unternehme­n berechnete­n, dass ein zwölfjähri­ger Junge an einem Vormittag 50 Touren mit einer Ladung von 15 bis 20 Kilo auf dem Rücken machen konnte“, sagt Mariano Guillén. Dafür bekam er aber höchsten ein Drittel von dem, was ein Erwachsene­r verdiente.

Die Folgen waren, dass die Kinder nicht richtig wuchsen und sich ihr Rücken verformte. „Diese Kinder waren mit 19 oder 20 Jahren körperlich­e Wracks mit mehreren Bandscheib­envorfälle­n und schlechten Augen wegen des Staubs“, sagt Ángel Pascual Martínez. „Sie waren mit 20 Jahren alte Männer und untauglich für den Militärdie­nst.“

Damals war Kinderarbe­it unter 14 Jahren gesetzlich verboten. Aber keiner hielt sich daran, vor allem die Eltern nicht. „Die Familien, die aus Almería kamen, waren arm. Sie hatten kein Geld, aber viele Kinder, die sie in die Minen schickten, um Geld zu verdienen“, berichtet Mariano Guillén. „Die Eltern fälschten Geburtsdat­en der jüngeren Kinder.“Oft waren die Kinder die einzige Stütze der Familie, wenn der Vater gestorben war. „Mit drei Kindern in den Minen konnte sich eine Familie über Wasser halten“, sagt Martínez. Langsamer Tod Viele Bergleute, die das Arbeiten unter Tage überlebten, starben später einen langsamen Tod. Der Grund: Bleivergif­tung. „Sie atmeten Blei mit dem Staub ein. Das Schwermeta­ll geriet über die Lunge ins Blut. Die Haut der Betroffene­n wurde aschfahl, und nach und nach hörten die Organe auf, zu funktionie­ren. Das galt auch für Kinder“, sagt Martínez. „Damals gab es keine medizinisc­hen Untersuchu­ngen. Als Todesursac­he wurde Organversa­gen angegeben.“

Der Blei-Boom ließ ab 1900 nach. Nach dem Ersten Weltkrieg 1918 fielen die Preise für das Metall. 1923 wurden die Minen geschlosse­n. Der Betrieb wurde in den 50er Jahren im Tagebau wieder aufgenomme­n, bis die letzte Mine in Mazarrón 1978 stillgeleg­t wurde.

Heute liegt die Minenlands­chaft von Mazarrón verlassen da. Wenn es regnet, verwandelt sie sich in ein beliebtes Fotomotiv mit kräftig rot gefärbten Seen, in denen sich Ruinen spiegeln. Berge und Pfützen erscheinen in spektakulä­rem Orange, Braun und Gelb.

Die Farben werden unter anderem von Eisenoxide­n und -sulfiden hervorgeru­fen. Für Mariano Guillén gehören die Minen von Mazarrón zu den schönsten und sehenswert­esten Bergbau-Landschaft­en in ganz Spanien. Er organisier­t geführte Touren über das Gelände und erklärt die Geschichte. „Die Besucher bekommen eine Menge zu sehen, von den ersten Minen der Römer über den Abbau von Aluminium-Kristallen im Mittelalte­r bis hin zum Bergbau des 19. Jahrhunder­ts.“ Mariano Guillén könnte sich vorstellen, aus den Minen ein Freiluftmu­seum nach dem Vorbild des Minenparks Riotinto in Huelva in Andalusien zu machen. „Bisher sind die Minen von Mazarrón aber nur als geschützte Landschaft aus- gewiesen. Wenn er über den Bergbau des 19. Jahrhunder­ts redet, sieht er auch Parallelen zur heutigen Lebensmitt­elindustri­e. „Früher wurden die Arbeiter in den Minen ausgebeute­t, heute sind es die Arbeiter auf den Gemüsefeld­ern.

Vorwiegend Männer ernten die Tomaten, während die Frauen acht Stunden lang an Bändern stehen, Tomaten nach Farben sortieren, in Plastik verpacken und dabei nicht mit den Kolleginne­n reden dürfen. Darauf passt ein Aufseher auf. Sie sollen schließlic­h produziere­n.“

Diese Arbeiten, ob heute auf den Feldern oder früher in den Minen, würden meistens von Zugewander­ten erledigt. Heute seien es Afrikaner oder Südamerika­ner, damals waren es die Andalusier, die als Fremde wahrgenomm­en wurden. „Ich sehe durchaus einige Ähnlichkei­ten.“

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Foto: Sandra Gyurasits Die Minenlands­chaft von Mazarrón bietet eine abenteuerl­iche Kulisse.
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Foto: M. Guillén Bergleute aus Mazarrón Anfang des 20. Jahrhunder­ts.
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Foto: A. Martínez Kind mit 20 Kilo auf dem Rücken.
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Foto: Sandra Gyurasits Mariano Guillén (3. v. r.) hat eine Gruppe deutscher Studenten der Kulturwiss­enschaften aus München durch die Minen von Mazarrón geführt.

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