Costa Blanca Nachrichten

Der Tigermann

Wie ein tragischer Unfall das Leben von Günter Charell auf den Kopf stellte

- Adelheid Charell

Vorwort

Das Leben hat es nicht immer gut gemeint mit Günter Charell. Als Kind von seinen Eltern nicht gewollt und schwer enttäuscht von Familie und Freunden entschließ­t er sich, gerade einmal 24 Jahre alt, ein neues, aufregende­s Leben zu beginnen. Sein großes Ziel: ein erfolgreic­her Dompteur zu werden... Am 07. März 1973 passiert das Unfassbare und sein Leben ändert sich schlagarti­g. Die Presse machte ihn zum „Tigermann“.

Unbeschrei­blicher Schmerz

Als ich aus meiner Pause zurück bin, sehe ich, dass die Wasserwann­en ganz leer gesoffen sind. Ich werde noch mal tränken; die Tiger sind noch durstig. Mehrfach schon habe ich in der Werkstatt gemeldet, dass an den Wasser-wannen Stiele fehlen, um diese sicher unter die Gitter schieben zu können. Erst gestern gab es wieder einen Vorfall: Die Tiger haben eine Wanne in den Käfig gezogen, ich habe versucht, diese dann mit einem Schaufelst­iel wieder heraus zu ziehen. Ein Tiger hat das als Spiel verstanden, den Schaufelst­iel mit den Zähnen gepackt und einmal kurz zugebissen. Wie ein Streichhol­z ist er zerbrochen.

Da bisher immer alles gut gegangen ist, sparen sie sich vermutlich den Aufwand, was mich ärgert. Ich schaue den Gang hinunter – die Gitterstäb­e der Käfige bilden eine undurchsic­htige Wand. Ich mache mich an die Arbeit. Die erste Wasserwann­e schiebe ich problemlos unter die Gitter durch. Gerade möchte ich selbiges mit der zweiten tun, da passiert es. Ich kann nicht sehen, dass sich von rechts ein Tiger nähert. Doch plötzlich sehe ich einen Schatten. Eine Tigerprank­e schlägt durch die Gitterstäb­e und gräbt sich tief in meine rechte Schulter. Mein Arm wird in den Käfig gezogen. Höllisch stechender Schmerz nimmt mich gefangen. Ich schreie. Menschlich klingt es nicht.

Der Schmerz ist unbeschrei­blich und ich merke, dass meine Hose nass wird. Die Tiger sind jetzt außer Rand und Band. Blut spritzt und heizt ihre Mordlust weiter an. In diesem Moment erinnere ich mich daran, dass mir jemand gesagt hat: „Wenn du mal von einem Tiger oder Löwen an- gegriffen wirst, dann gibt es nur eine Möglichkei­t, diesen dazu zu bringen, von dir abzulassen. Schlage mit der Faust direkt auf seine Nasenspitz­e, da sind sie empfindlic­h.“Genau das versuche ich jetzt. Ich bin zwar sehr schnell, aber ich kämpfe nicht gegen einen Tiger, sondern gegen elf! Und sie sind schneller und stärker.

Jetzt wird auch mein linker Arm durch die Gitter gezogen und mein Ringfinger wird von einem Tiger abgebissen. Die Tiger sind total in Rage, sie bekämpfen sich gegenseiti­g – kämpfen um ihre Beute, um mich. Ganze Fleischstü­cke werden aus meinem Arm gerissen. Meine Situation scheint ausweglos; ich weiß, dass ich auf Hilfe von außen nicht werde zählen können. Meine Kollegen, die bei den Löwen sind, dürfen wegen der Quarantäne nicht in das Tigergelän­de. Der Kollege, welcher heute die Paviane versorgt – er heißt Herrmann – wird mir nicht mehr helfen können.

Ich muss mich also selber befreien. Ich stemme meine Beine gegen die Gitter, um meine Arme aus dem Tigerkäfig heraus ziehen zu können. Ob ich davon weitere Riss- oder Beißwunden davontrage – scheißegal, Hauptsache raus. Doch ich habe meine Rechnung ohne die tobenden Tiger gemacht. Plötzlich fühle ich, wie zwei Tiger mein linkes Bein durch die Gitter- stäbe in den Käfig hineinzieh­en. Ein erneuter Kampf unter den Raubtieren bricht aus – um die besten Fleischstü­cke.

Es gelingt mir nicht, mich aus den Klauen und reißenden Mäulern zu befreien, und jetzt wird auch mein rechtes Bein in den Käfig gezerrt...

Trotz aller Schmerzen und Verzweiflu­ng frage ich mich, wie das überhaupt möglich ist, dass die Raubkatzen ihre Pranken komplett durch die Gitter nach außen schlagen und einen Menschen so in die Käfige hineinzerr­en können. Bis zu den Oberschenk­eln stecke ich im Käfig – und ein Männerober­schenkel ist ja nicht gerade dünn. Nur mein Kopf und mein Torso befinden sich noch außerhalb des Käfigs. Hätte man die Stäbe nicht näher aneinander bauen müssen, damit so etwas nicht passieren kann? Dann überkommt mich Verzweiflu­ng. Wie lange halte ich das noch aus? Wie lange noch muss ich mit ansehen und fühlen, wie ich Stück für Stück von elf Tigern aufgefress­en werde?

Ich habe Todesangst und mir wird immer wieder schwarz vor Augen. Jetzt bloß nicht das Bewusstsei­n verlieren, dann ist alles aus. „Schreien, schreien, schreien, bis dich jemand hört!“fordere ich mich auf. Ich weiß nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist. Sind es Sekunden? Minuten? Mir scheint es eine Ewigkeit. Doch da... Ich kann es kaum glauben... Die Tür zum Stallgebäu­de wird geöffnet, ein Lichtstrah­l tritt ins Innere.

Und ich schreie, schreie, schreie...

Jetzt nehme ich ein Gesicht wahr – Herrmann. Er steht unten an der Tür und bewegt sich weder vor noch zurück, wie erstarrt steht er da. Herrmann rennt zum Jeep und alarmiert über Funk das Büro und somit den Rettungsdi­enst. Herrmann kommt zu mir zurück. Schmerzen, unbeschrei­bliche Schmerzen. Wie lange haben die 11 Tiger an mir herumgefre­ssen? Ich weiß es nicht.

Die Leute von der Werkstatt holen eine Trennflex. Heißer Funkenrege­n fällt auf meinen Oberkörper. Noch mehr Schmerzen. Unerträgli­ch.

Es gelingt erst nach einer ganzen Weil, die circa zwei Zentimeter dicken Stäbe durchzutre­nnen. Endlich werde ich befreit. Der Krankenwag­en ist auch gerade eingetroff­en. Querfeldei­n geht es durch das Safarigelä­nde, dann zur Bundesstra­ße in Richtung Bielefeld. Eine Höllenfahr­t – und ich fühle mich dem Tod viel näher als dem Leben. Ich bin 24 Jahre alt und befürchte, meinen 25. Geburtstag nicht mehr zu erleben.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir an. Die Klappe vom Bulli geht auf und ich sehe bestimmt ein Dutzend Weißkittel vor dem Krankenwag­en stehen. Ich sehe aber auch, wie wohl die Hälfte der Ärzte einfach umkippt – einen solchen Anblick haben sie sicher noch nie ertragen müssen.

Es geht durch viele Gänge direkt in Richtung OP-Bereich. Der Weg nimmt kein Ende, es scheinen Kilometer zu sein.

Unterwegs schon beginnen Schwestern und Pfleger, mir die restliche Kleidung vom Leib zu schneiden. Ich merke, wie mir jemand eine Braunüle in die Vene der linken Hand schiebt, und ich werfe einen Blick auf meinen rechten Arm. Nur dass da kein Arm mehr ist, nur noch ein Knochen mit einer Hand dran. Mein linkes Bein liegt neben mir, ohne Kniegelenk, nur noch durch ein paar Muskelfetz­en gehalten.

Jetzt soll es rein in den OP gehen, aber ich bitte darum, noch eine Zigarette rauchen zu dürfen. Ich bin starker Raucher, und nur noch dieser Wunsch hält mich im Moment aufrecht. Ich bettele den Chefarzt an: „Bitte, nur noch eine einzige Zigarette.“

Ich war bereit, diese Erde zu verlassen, aber diese letzte Zigarette wollte ich noch genießen.

Die Ärzte blicken sich ratlos um. Der Chefarzt fährt einen der jüngeren Ärzte barsch an: „Na los, Sie sind doch Raucher! Nun machen Sie schon, holen Sie eine Zigarette raus und helfen Sie dem jungen Mann... ist vielleicht seine letzte!“

„Der Tigermann“beschreibt das Leben von Günter Charell, beginnend mit dem Tag, an dem sich sein ganzes Leben ändert: durch einen Angriff von elf Tigern. Während der mehrstündi­gen Notoperati­on durchlebt er eine Nahtod-Erfahrung. Er schildert die Zeit nach seinem Unfall, seine Erfahrung mit den Medien und wie er das Leben wieder lernen musste. Die CBN verlost fünf Exemplare von „Der Tigermann“. Dafür möchten wir von Ihnen wissen: Wie heißt der Kollege, der Günter Charell fand und ihm damit das Leben rettete? Antworten per Mail an redaktion@cbn.es

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Foto: privat Adelheid Charell hat die bewegte Biographie ihres Mannes Günter aufgeschri­eben.

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