Leonardo in Madrid
Doppelausstellung feiert den Universalgelehrten in der Hauptstadt, die auch sonst einiges vom Künstler zu bieten hat
„Das kostbarste unter den Werken, die letzte Woche auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert wurden, hat ein Linkshänder in Spiegelschrift vor 500 Jahren zu Papier gebracht.“Mit diesen Worten eröffnete „Der Spiegel“am 14. Oktober 1974 einen Bericht über die Luxusedition von Notizbüchern Leonardo da Vincis, die „Codices Madrid“, die der S. Fischer Verlag damals auf Deutsch mitherausgab.
Die Original-Kodexe sind in Madrid in der Staatsbibliothek (BNE) im Rahmen einer großen Doppelschau bis 19. Mai zum Gedenken Leonardo da Vincis ausgestellt. Ein zweiter Teil ist im Alhajas-Palast zu sehen. „Los rostros del genio“(Die Gesichter des Genies) lautet der Titel.
Der 1452 in der Nähe von Florenz geborene Leonardo da Vinci, Universaltalent und RenaissanceMensch über alle Grenzen hinweg, starb am 2. Mai 1519 im Schloss Clos Lucé, bei Amboise an der Loire. Zum 500. Todestag des genialen Künstlers im kommenden Jahr beginnen bereits in diesem Herbst in Florenz, Haarlem und Madrid Ausstellungen, die den Visionär feiern. Paris, zwölf Städte Großbritanniens, darunter natürlich London, Mailand und der Geburtsort Vinci folgen. Reiserouten an die Schauplätze seines Lebens, in die Toskana, nach Mailand oder an die Loire-Schlösser, Gedenkmünzen, Kongresse und neue Biographien beleben den Da-Vinci-Hype.
Einige der wichtigsten – und teuersten – Werke der Kunstgeschichte stammen von Leonardo: Die „Mona Lisa“, „Das Letzte Abendmahl“, die „Proportionsstudie nach Vitruv“. Das ChristusBildnis „Salvator Mundi“ersteigerte die Regierung Abu Dhabis im November 2017 für 450 Millio- nen Dollar – bis heute der höchste Preis, der je für ein Bild bei einer Versteigerung bewilligt wurde.
Das „Tavola Lucana“genannte Selbstbildnis des Künstlers ist erst 2009 vom Historiker und Museumsdirektor Nicola Barbatelli entdeckt worden und nun erstmals nach Madrid ausgeliehen.
Im Prado-Museum hat sich 2012 eine „Mona Lisa“, die als flämische Schule unbeachtet an der Wand hing, beim Restaurieren als authentische Kopie aus Leonardos Werkstatt entpuppt. Eine kleine Weltsensation für Madrid.
Im Museum Lázaro Galdiano, das die Sammlungen des gleichnamigen Kunstmäzens zeigt, hing jahrzehntelang das Leonardo da Vinci zugeschriebene Bild „El Salvador“. Inzwischen ordnen es die Experten als Werk seines Schülers Giovanni Antonio Boltrafio ein.
Der Malerei, Bildhauerkunst, Architektur und Musik, aber auch der Anatomie, Ingenieurskunst, Geologie, Botanik, Waffenkunde, Flugmaschinen, der Erforschung von Naturgesetzen, der Energiegewinnung aus Sonnenlicht galt die unerschöpfliche Neugierde Leonardos. Viele seiner Berechnungen und Erfindungen haben sich erst im 20. Jahrhundert als möglich herausgestellt.
Seine Brücke über den Bosporus wurde 1973 realisiert (und 1992 ersetzt), im norwegischen Ås wurde nach seinen Plänen 2001 eine Fußgängerbrücke errichtet. Albert Einstein hätte sich manche Forschung zu Schwerkraft und Beschleunigung ersparen können, wenn er Leonardos Abhandlungen gekannt hätte, der auch schon das später von Newton entdeckte Rückstoßprinzip vorwegnahm.
Anmerkungen, Beschreibungen, Studienergebnisse und Berechnungen hielt Leonardo samt Zeichnungen in seinen Notizbüchern fest. In seiner akribisch kleinen Spiegelschrift, von rechts nach links geschrieben. Diese Kodex genannten wertvollen Manuskripte sind heute über die ganze Welt verstreut.
Zur Quadratur des Kreises
1994 erwarb Bill Gates den Codex Leicester, eine wissenschaftliche Abhandlung über das Wasser. Auf 72 Zetteln und Bögen ging Leonardo zwischen 1506 und 1508 der Beschaffenheit und elementaren Wichtigkeit dieses Elements auf den Grund, warnte vor Naturkatastrophen und sagte Wasser auf dem Mond voraus. Die Gates-Stiftung zahlte 30 Millionen Dollar für die teuerste Loseblattsammlung der Welt. Sie ist der einzige Kodex in privater Hand.
Zwei Kodexe besitzt der spanische Staat. Sie befinden sich in der Staatsbibliothek in Madrid und sind jetzt erstmals für die Öffentlichkeit ausgestellt. Die 500 Jahre alten Manuskripte vor sich zu haben, sei für den Besucher ein einzigartiges Erlebnis, schwärmt die Kuratorin der Ausstellung, Elisa Ruiz. Statt virtueller Produkte wird hier die Sinnlichkeit authentischer, handschriftlicher Seiten geboten“. Zu sehen sind der Kodex Madrid I“und Kodex Madrid II“, dicke Kladden im Format 15 mal 21 Zentimeter.
Kodex I umfasst 192 Blätter, die auf 1490 bis 1499 datiert werden: Eine technische Abhandlung zu Statik und Mechanik, mit Zahnrädern, Seilzügen, Textilmaschinen, Schneckengetriebe für Uhrwerke, die offenbar vervielfältigt und veröffentlicht werden sollte. Denn der Autor wendete sich direkt an ein Publikum: Lies mich, Leser, wenn ich dir Freude mache, denn sehr selten kehre ich zu dieser Welt zurück.“
Kodex II sind 157 Blätter, die zwischen 1503 und 1505 entstanden: Eine Art Notizbuch mit persönlichen Äußerungen über Liebeskummer, einem Inventar seiner Bücher und seiner Kleidung, Notizen zum Vogelflug, der Kanalisierung von Flüssen, dem Bronzeguss des Sforza-Pferdes und zur Quadratur des Kreises. In der Nacht des heiligen Andreas habe ich die ultimative Lösung zur Quadratur des Kreises gefunden, als die Kerze, die Nacht und das Papier, auf das ich schrieb, zu Ende gingen.“Dabei blieb es. Und Albrecht Dürer, ein anderer Ausnahmekünstler, machte sich 1525 zumindest an eine Näherungslösung für das geometrische Problem.
Es ist ein großes Glück, dass Leonardos Aufzeichnungen heute einsehbar sind. Lange Zeit wusste nämlich niemand, wo sie geblieben waren. Zum einen hatten sie häufig die Besitzer gewechselt, dann wurden sie in der Bibliothek falsch katalogisiert und erst 1965 durch Zufall wiedergefunden. Fast noch eine Geschichte für Dan Brown. Als Leonardo starb, hütete sein Schüler Francesco Melzi in Mailand den schriftlichen Nachlass wie seinen Augapfel. Dessen Sohn Orazio teilte die Liebe für die Kladden allerdings nicht, stapelte sie im Heuschober und verkaufte, was er loswurde, wobei die Hefte nach thematischen Interessen teil- weise gefleddert und neugeordnet wurden.
Unter den Käufern befand sich auch Pompeo Leoni (1530-1608), Hofbildhauer von Felipe II. und Kunstsammler, der mit einem Stapel nach Madrid zurückkehrte. Als er starb, zerstreuten sich die Hefte wieder. Bis der kantabrische Kleriker Juan de Espina (1568-1642) das, was wir heute als Codices Madrid“kennen, in die Hände bekam. Inzwischen war der britische Graf Arundel ganz erpicht auf die Schriften Leonardos. Er soll den Kirchenmann regelrecht belagert haben, doch der widerstand und vererbte die Handschriften dem spanischen König. Der Graf erwarb später ein anderes Manuskript, den Codex Arundel“.
Verschollen in der Bibliothek
Die Codices Madrid“gelangten also in die königliche Sammlung und diese bildete den Grundstock für die 1830 gegründete Staatsbibliothek. In deren erstem Inventar der Handschriften tauchte der Codice Madrid“auf, dann verlor sich die Spur wieder, obwohl immer wieder systematisch nach den Manuskripten gesucht wurde.
1965 bestellte der amerikanische Hispanist Jules Piccus auf der Suche nach mittelalterlichen Balladen in der Madrider Staatsbibliothek zwei Leernummern aus dem Handschriften-Katalog. Das sind nicht nach Inhalt und Autor, sondern nur als Nummer katalogisierte Werke. Er erhielt keine Verse, sondern erkannte sofort, dass es sich um Leonardo-Texte handelte. Der Experte Ladislao Reti gab ihm recht, und die Madrider Staatsbibliothek bestätigte 1967 die Sensation der wiedergefundenen Codices“. Und sie musste einen peinlichen Irrtum erklären. Fälschlicherweise waren die beiden Bände als Aa19 und 20 katalogisiert, die richtige Nummer war Aa119 und 120.
Für die Ausstellung wird erstmals das eindrucksvolle Vestibül der Biblioteca Nacional einbezogen. Dort empfängt den Besucher ein großes Modell des ab 1488 von Leonardo entworfenen, aber nie realisierten Reiterdenkmals, dem Sforza-Cavallo. Auftraggeber war Ludovico Sforza, der mit der Statue seinen Vater Francesco Sforza, Herzog von Mailand, ehren wollte. Auch einige der im Kodex skizzierten Objekte wurden nachgebaut. Die Kodexe sind in einem Vorraum zum Hauptsaal ausgestellt.
Von der Staatsbibliothek an der Plaza de Colón fährt man zum zweiten Ausstellungsort an die Plaza San Martín, ganz in der Nähe der Puerta del Sol. Im Palacio de las Alhajas geht es Kurator Christian Gálvez um den spektakulären Blick auf Leonardo: Stiche und Drucke von Werken über ihn, Bilder und ihre interaktive, audiovisuelle Aufarbeitung. Krönung ist das Selbstbildnis Tavola Lucana“, das das tatsächliche Bildnis des Leonardo wiedergeben soll, eben das Gesicht des Genies.