Im freien Fall
Spanische Wirtschaft bricht um 18,5 Prozent ein – Aussicht auf Erholung trübt sich ein
Einen beispiellosen Absturz hat Spaniens Wirtschaft im zweiten Quartal, dem Zeitraum mit den schärfsten Corona-Einschränkungen, erlebt. Zwischen April und Juni reduzierte sich das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum ersten Quartal um 18,5 Prozent. Die auf den Sommer gerichteten Hoffnungen werden von Corona-Ausbrüchen getrübt.
Madrid – tl. Die volkswirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie treten immer deutlicher zutage. So hat die spanische Wirtschaft im zweiten Quartal, dem Zeitraum mit den schärfsten Einschränkungen, einen beispiellosen Absturz erlebt. Zwischen April und Juni reduzierte sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Vergleich zum ersten Quartal um 18,5 Prozent. Bereits zwischen Januar und März dieses Jahres war die Wirtschaft Corona-bedingt um 5,2 Prozent geschrumpft. Im Jahresvergleich beträgt das Minus sogar 22,1 Prozent. Spanien ist zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert in eine tiefe Rezession gerutscht – diesmal in eine noch tiefere.
Seit 1970 führt das Nationale Statistikinstitut INE alle Vierteljahre Buch über die Wirtschaftsentwicklung. Einen ähnlichen Einbruch verzeichnet die Statistik nicht. Nicht einmal auf dem Höhepunkt der Finanz- und Immobilienkrise. Im ersten Quartal 2009 sank das BIP um vergleichsweise milde 2,9 Prozent. Selbst während des Kuba-Kriegs 1896 oder der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre, haben Berechnungen ergeben, erlebte Spanien keinen solchen Absturz. Lediglich 1936, als der Bürgerkrieg ausbrach, sank die Wirtschaftskraft im Jahresvergleich mit minus 26,8 Prozent um den bislang höchsten Wert. Sollte sich das dritte Quartal 2020 ähnlich desaströs entwickeln, könnte die Marke übertroffen werden.
Spanien leidet mehr als andere
Der BIP-Einbruch von 18,5 Prozent kommt nicht überraschend. Die Banco de España hatte für das zweite Quartal bereits prognostiziert, dass die Wirtschaft zwischen 16 und 21,8 Prozent schrumpfen könnte. Auch dass Spanien unter der Corona-Krise mehr leiden würde als andere Volkswirtschaften, war erwartet worden – USA minus 9,5 Prozent, Deutschland minus 10,1, Italien 12,4 und Frankreich 13,8 Prozent. Zum einen hatte Spanien mit die schärfsten Corona-Einschränkungen. Zum anderen dominieren hier mit dem Tourismus und der Automobilindustrie die Branchen, die von der Krise am stärksten betroffen waren.
Auch andere Wirtschaftsdaten aus dem zweiten Quartal unterstreichen das Drama: Die Ausgaben der Haushalte gingen um 21,2 Prozent zurück, die Investitionen gaben um 21,9 Prozent nach, die Exporte brachen um 33,5 Prozent ein, die Importe sanken um 28,8 Prozent. Die Industrie verlor 18,5 Prozent, die Bauwirtschaft bröckelte um 24,1 Prozent. Der Dienstleistungssektor verzeichnete ein Minus von 19,1 Prozent, wobei Handel, Transport und Hotellerie mit minus 40,4 Prozent am schlechtesten abschnitten. Lediglich die Landwirtschaft (plus 4,4 Prozent) und die Bankenwirtschaft (plus 3,4 Prozent) widerstanden dem Abwärtstrend. Die Zeitung
„ El País“rechnet hoch: Sollte sich die Wirtschaft bis Jahresende weiter wie im zweiten Quartal entwickeln, stünde am Ende ein BIP-Absturz von 70 Prozent zu Buche.
Derweil betrachtet das Wirtschaftsministerium die INE-Daten noch als „ Blick in den Rückspiegel“. Seit Mai sei schließlich eine Belebung der Wirtschaft spürbar, heißt es in einer Stellungnahme am vergangenen Freitag. Was auch stimmt. Eine Reihe von Indikatoren wie etwa Stromverbrauch oder Straßenverkehr deuten auf eine wirtschaftliche Normalisierung hin, auch wenn das VorCorona-Niveau noch nicht erreicht ist. Der private Konsum zieht wieder an. Die Zeichen stehen in der Tat auf Erholung, wäre da nicht die neue Entwicklung in Sachen Corona. Seit geraumer Zeit steigt die Zahl der täglichen Neuinfektionen wieder dramatisch an. Ganze Gebiete befinden sich wieder im Lockdown, neue Einschränkungen werden angeordnet.
Für den Tourismus mit seinen gut zwölf Prozent Anteil am BIP (2019) kommt der Rückfall zur Unzeit. Normalerweise kommen im August zwölf Millionen ausländische Urlauber ins Land. Nun aber gelten Katalonien, Aragón und Navarra in vielen Ländern als Risikogebiete. „ Das ist der katastrophalste Sommer seit 50 Jahren“, klagt José Luis Zoreda, Vizepräsident der Tourismus-Lobby Exceltur. Wenn das so weitergehe, würden bis zum Jahresende 750.000 Mitarbeiter im Tourismus ihren Job verlieren.
Dabei übertreibt Zoreda keineswegs, wie die am Montag veröffentlichte Tourismusbilanz für den Monat Juni und das erste Halbjahr zeigt. Laut INE besuchten im Juni 204.926 ausländische Urlauber das Land. Im Vergleich zum gleichen Monat des Vorjahres waren das 97,7 Prozent weniger. Die INE-Daten der ersten sechs Monte bezeichnete „ El País“als „ das katastrophalste Halbjahr, das der Tourismussektor jemals registriert hat“. Nur 10,78 Millionen ausländische Touristen kamen zwischen Januar und Juni nach Spanien. Im vergangenen Jahr waren es zu diesem Zeitpunkt 38,1 Millionen. Damit wurden gerade einmal 28 Prozent der Vorjahreszahl erreicht.
Plötzlich ist die wirtschaftliche Erholung in Gefahr. Spanien mit seiner Abhängigkeit vom Tourismus und seiner wenig diversifizierten Wirtschaft ist extrem anfällig.
„ Es sieht danach aus, dass die Rückkehr aufs Vor-Corona-Niveau länger als erwartet dauern wird. Mit einem so dominanten Schwergewicht wie dem Tourismus ist es essentiell, dass Spanien im Ausland das Bild eines sicheren Reiseziels abgibt“, sagt Francisco Vidal, ChefÖkonom von Intermoney, gegenüber „ El País“. Dieses Bild gibt Spanien derzeit nicht ab. Sollte sich die Entwicklung zudem zu einer zweiten Corona-Welle ausweiten, wäre die Katastrophe perfekt.
Nur durch den Ausbruch des Bürgerkriegs sank die Wirtschaftskraft noch mehr