Der Kuss des Vaters
Senior aus Elda glaubt, nach 80 Jahren Frieden mit der Vergangenheit schließen zu können
Elda – sw. An unserer Küste gibt es Gräber, die an den Gedenktagen für die Toten keine Blumen tragen. Gräber von Menschen, an die keiner mehr denkt. Aber auch Gräber, deren Standort oder Inhalt unbekannt ist. Familien, deren Angehörige im Bürgerkrieg und in der frühen Diktatur in Massengräbern verscharrt wurden, wissen nicht, an welchem Ort sie ihr Gedenken ausdrücken können. Betroffenen an der südlichen Costa Blanca jedoch spenden seit einiger Zeit Arbeiten am Friedhof Alicante Hoffnung: Opfer des Faschismus, die aus den Räumen Orihuela und Elche stammten, werden auf der Masengrabwiese geborgen. Zu bewegenden Momenten kommt es, wenn Menschen durch die Funde nach Jahrzehnten Frieden finden.
Ein kleines rostiges Metallstück, eine Art Brosche in Form eines Kusses, war dieses Jahr für Vicente Olcina aus Elda die Wende seines Lebens. Der 85-Jährige hatte seit er vier war ohne Vater gelebt. Der, namens Vicente Machirán, war 1942 erschossen worden. Das Gericht der Franco-Diktatur glaubte, dass der 28Jährige im Krieg für das republikanische Lager Menschen gemordet hatte. Bewiesen wurde das nie. Und Machirán war sich seiner Unschuld so sicher, dass er nach dem Bürgerkrieg vorerst in Elda wieder Schuster wurde. Erst als er mitbekam, dass auch Republikaner ohne jeden Nachweis von Schuld verurteilt wurden, versuchte er zu fliehen. Jedoch vergebens.
Machirán wurde gefasst und wusste bald, dass er seine Frau und den kleinen Vicente nicht wiedersehen würde. Was tat er? Briefe schreiben. Briefe voller Liebe und guter Wünsche. Kein Groll, kein Hass. Das kann der Sohn, mit dem die „ Información“in diesen Tagen sprach, nachweisen. Denn er hat die Briefe aufbewahrt wie einen
Schatz, kann sie sogar Wort für Wort rezitieren. Am liebsten den Brief „ Todo amor“(ganz Liebe), an den Sohn verfasst. Erst vor 30 Jahren, als seine wiederverheiratete Mutter starb, fand Olcina die Zettel. Zuvor war das väterliche
Schicksal in der Familie ein bedrückendes Tabu gewesen. Aus Trauer, sicher. Aber auch aus Angst vor dem Regime.
Tragischerweise sandte dieses der Familie eine Begnadigung des Vaters zu. Allerdings zu spät: 15 Tage war er schon tot – hatte sich jedoch auf besondere Weise verewigt. In einem Brief gab Machirán eine Anleitung: Am Knöchel, unter dem Socken versteckt, würde er einen Kuss aus Metall tragen.
So könnte man im Falle einer Ausgrabung seinen Leichnam erkennen. Das Unglaubliche geschah nun. Im Massengrab 17 in Alicante fand man das Schmuckstück. Die Reste des Hingerichteten weilen im DNA-Labor in Aspe. Doch schon vor den Ergebnissen glaubt der Senior, der sich 80 Jahre lang nach der Umarmung seines leiblichen Vaters gesehnt hatte, „ authentische Befreiung“erlangt zu haben.