Informelle Idylle
Chipiona fällt zwischen Cádiz und Sanlúcar kaum auf – Gut so, ein Ausflug an den Atlantik
Chipiona – mar. Es ist ein eigentümliches Örtchen, dieses Chipiona, das wie eine zu groß geratene Leuchtturm-Station wirkt. Irgendwer hat es im Laufe der Geschichte einfach links liegen gelassen, zwischen Sanlúcar de Barrameda an der Mündung des Guadalquivir und dem Naturpark Doñana, Rota und dessen Militärstützpunkt und dem wild-schönen Cádiz, Heimathafen der AmerikaFahrer und Weltumsegler, etwa 50 Autokilometer entfernt. Dabei ist Chipionas Leuchtturm mit 70 Metern der höchste Spaniens und in den Top 20 der Welt. Schon die Römer errichteten hier einen Vorgänger, der Seefahrer vor den Klippen warnte und vor dem damals nicht gut befahrbaren Betis, wie der Guadalquivir vor der Maurenzeit noch hieß. Den Namen des Römer-Kommandeurs verhunzten sie 2.000 Jahre lang, bis irgendwann Chipiona übrig blieb.
Alles hier dreht sich ums Meer, denn Chipiona beschreibt eine Ecke in den Atlantik hinein, liegt nur zufällig gerade noch so an Land. Es fallen die brusthohen Corrales de Pesca auf, hölzerne Barrikaden mitten im Wasser, die bei Ebbe den Fischfang erleichtern, weil sie den Fischen den Rückzug ins offene Meer erschweren. Es ist eine der ältesten Fischereitechniken, die heute vor allem den Touristen vorgeführt wird.
Zufall als Prinzip
Die Dominanz des Meeres sieht man im Stadtbild. Wo andere Orte eine gewachsene Struktur aus Plätzen, Gebäuden, Straßenzügen aufweisen, liegen die Häuser hier ein bisschen herum wie ein Häuflein gebrauchter Wäsche, das der Wind durcheinandergeweht hat. Fast so zufällig arrangiert wie die Felsen vor der Küste. Weiß getünchte, angegilbte Fischersiedlungen gehen über in Wohnblöcke und Urbanisationen, deren „ Stil“spätere Archäologen einmal als „ Neue Barbarei“taufen werden. Krone der Schöpfung: Plastikgewächshäuser, nicht für Obst und Gemüse, sondern für Schnittblumen, vor allem Nelken.
Dazwischen immer wieder liebliche historische Einsprengsel, Kapellen und Kirchen natürlich, eine „ Burg“direkt an der Küstenlinie, die zwar seit dem 13. Jahrhundert Burg heißt, aber nie eine war.
Die Burgherren, die Señoritos de Guzmán, wurden aus Mitleid für diese armselige Feste nicht von fremden Heeren angegriffen, aber auch, da sie nie Zuhause waren. Die Architekten erledigten in acht Jahrhunderten, was kein Feind zustande brachte, die weitgehende Zerstörung. Die letzten fast 200 Jahre war das Castillo ein Hotel, davor ein Gefängnis und in den 20er Jahren lebte hier für fünf Jahre ein Bourbonisches Prinzenpaar wie in der Verbannung, aber mit Privatstrand.
Standortvorteil: Atlantik
Irgendwann ließen die Besitzer die Villa mit Zinnen gänzlich verfallen, bis die Stadt das Castillo enteignete, irgendwie restaurieren ließ und darin 2009 das Museum „ Cádiz und die Neue Welt“einrichtete, um auch etwas abzubekommen vom weltmännischen Nachbarn. Wenige Originalstücke, dafür informative Schaukästen, erzählen Geschichten
von Entdeckungsfahrten, Eroberungen und Bewirtschaftung der Kolonien.
Durch das Meer trumpft Chipiona auf, im Sommer füllen sich die fünf Strände beachtlich, die aber, im Unterschied zu den Sardinen-Regalen am Mittelmeer, nie so ganz überfüllt sind. Das Wasser des Atlantik ist natürlich deutlich kühler. Bis kürzlich war das ein Standortnachteil, der sich im Klimawandel umkehrt, immer mehr Urlauber wollen nicht mehr in einer Brühe baden, die schon im Juni an die 30 Grad warm wird. Der Wind ist mitunter lästig, dafür kühlt er wenigstens die Nächte. Geheimtipp ist Chipionas Küste auch für Surfer und alle jene, die es lieben, zwischen Felsbrocken und Dünen zu wandern und zu baden, die nicht alle 200 Meter ein Lokal und einen Parkplatz brauchen. Chipiona hat daher Zukunft, keine schöne, wenn man sieht, was die Baukräne im
Ortsteil Costa Ballena zusammenzimmern, aber wir können jederzeit den Kopf in Richtung Meer drehen und sind versöhnt.
Der Faro, der Leuchtturm, kann besucht und gegen Voranmeldung bestiegen werden. Am 1. November dreht eine Jesusstatue eine Runde durch Ort und um den Turm, das macht sie seit 1755, seit das Erdbeben von Lissabon einen Tsunami anspülte, der die Stadt verwüstete und einige Fischer tötete. Im Winter ist Chipiona sehr still, abgesehen von den Lauten aus den Bars, in denen der Flamenco und die Copla im Wechselgesang mit den Gezeiten erklingen. Sie bauen Moscatel an in der Gegend, brauen daraus auch
Manzanilla-Sherry, vor allem aber einen „ Rosinen-Wein“, klebrig süß wie die Coplas und Filmchen der berühmten Rocío Jurado, die hier 1944 geboren und in Spanien Kult wurde. Ihr Mausoleum ist ein Pilgerort.
Hafen für Gourmets
Die Chipioneros brauchen keine Kulissen zu bauen, sie haben die großartigste vor der Tür: den Atlantik
Ist Chipiona im Sommer eine simple, durch Weite und Natur punktende Alternative zu den Mittelmeerstränden, ist es im Winter vor allem ein Tipp für Wanderfreunde, die ein bisschen Sturm im Gesicht vertragen. Sonst ist hier nicht viel los bis Ostern, auch wenn die Landesregierung mit 2,6 Millionen versucht hat, den Hafen aufzumöbeln. Eine „ Gourmet-Mole“wurde dieser Tage dort eröffnet, die ganz in der architektonischen Tradition Chipionas zu stehen scheint, denn die Anlage sieht so einladend aus, als hätte eine Firma für Messebau ihr Inventar vergessen.
Der Hafen solle näher an die Stadt rücken und nicht nur ein Parkplatz für Sportboote und der Umschlagplatz der Fischer sein, wünschte sich ein Minister aus Sevilla, der sich das erste Bier zapfen lässt. Die Fischer schlagen sich derweil mit EU-Quoten, Schonzeiten und einem versuchten Verbot der Schleppnetzfischerei herum. Amerikanische Fischerei-Touristen sind das neueste Seepferdchen, auf das die Strategen im fernen Sevilla hier nun setzen lassen wollen.
Das Informelle, das Zufällige, das ein bisschen Nachlässige, das Chipiona ausmacht, es liegt den Gaditanos insgesamt im Blut. Sie brauchen keine großartigen Kulissen zu bauen, sie haben die großartigste vor der Haustür, das Meer, den Atlantik. Der hatte schon Homer und Platon inspiriert, da wird er wohl uns postmodernen Pauschalerdlingen genügen. Auch die Chipioneros verleihen allem Stil und Swing durch Geselligkeit, die fatalistische Fröhlichkeit, die sie durch schwere Zeiten navigierte, die, wie die Wellen des Meeres, nie enden wollen, so, wie ihr Leuchtturm seit zwei Millennien etliche Schiffe vor dem Schiffbruch bewahrte. Und dem Gourmet, den es hier anspült, sind die misslungenen Installationen herzlich egal, er hat nur Augen für Garnelen, den Manzanilla und das Meer – die Dreifaltigkeit des Glücks an Spaniens Atlantikküste.
www.turismodechipiona.com