Heimat Katastrophe
Gaza-Krieg erschüttert Gemeinschaft der Palästinenser auch in Spanien – „Liste mit 30.000 Waisen“
Wenn am Ende des Ramadan (10. April) das „ Eid Mubarak“erklingt, ist es für Menschen des Islam geboten, den „ gesegneten Tag“auch äußerlich zu wünschen. Ein feierlich gedeckter Tisch gehört dazu und auch ein Look, mit dem man nach der Zeit des Fastens und des sich Besinnens auf das Wesentliche einen neuen Anfang ausstrahlt.
Doch dann gibt es die, die keinem Datum entgegenblicken können, das ihrem Hunger und dem Kampf ums nackte Überleben ein Ende bereiten könnte. Das palästinensische Volk im Gaza-Streifen erlebt im Fastenmonat eine stetige Hölle, die man in Spanien in diesen Tagen höchstens fern erahnen kann.
Eine Erschütterung brachte am Dienstag in Spanien die Nachricht vom Tod der sieben Menschen in Deir al-Balah. Arbeiter der NGO World Central Kitchen des spanischen Kochs José Andrés, die beim Verteilen von Lebensmitteln in Gaza in Israels Beschuss gerieten. Umgehend forderte der in den USA lebende Asturier von Israel einen Stopp des „ wahllosen Tötens“und des Blockierens der internationalen Nothilfen. Sieben völlig Unschuldige seien da gefallen, ja „ Engel... und keine Menschen ohne Namen, ohne Gesicht“.
Doch was sollen erst Adel AlSheik und seine Gemeinschaft der Palästinenser in Valencia sagen? An der Tagesordnung sind für sie Nachrichten vom Tod Angehöriger und Bekannter. „ Mal dringen Soldaten gewaltsam ins Haus eines Onkels ein, mal töten sie 18 Nachbarn. Alle haben solche Geschichten zu erzählen.“Der Vorsitzende selbst bange um seine Schwester in Gaza, dem so horrend der Gewalt ausgelieferten Streifen am Mittelmeer. Überhaupt kein Kampf gegen Terroristen, sondern ein Genozid sei Israels Offensive im Krieg, der im Oktober so furchtbar eskalierte.
32.500 Tote meldeten zuletzt Gazas Behörden. Nicht gerade sichere Zahlen seitens der extremistischen Hamas-Regierung. Jedoch ist es ein Fakt, dass Zigtausende – unschuldige Menschen mit Namen und Gesicht – durch den aktuellen Krieg ihr Leben verloren oder nah dran sind. Und das auf dem dünnen Rest des Landes, der ihnen noch übrig geblieben ist. Nach den jahrzehntelangen Verlusten zugunsten Israels, allem voran durch die Landbeschlagnahmungen 1976 in Galiläa, an die am 30. März der palästinensische Tag des Bodens – auch durch Demonstrationen in Spanien, etwa Madrid – erinnerte. „ Es ist keine Zeit zum Feiern. Da gibt es einfach keinen Anlass für“, sagt mit betrübter Stimme AlSheik. Keines der sonst so üblichen Samstagstreffen, die in der Comunidad Palestina de Valencia den Zusammenhalt stärken, komme derzeit zustande. „ An normalen Tagen“, so der Araber, sei das Ende des Ramadan „ wie die Weihnachtszeit“. Nun aber scheint das gemeinsame Leid das einzige zu sein, was den Palästinensern bleibt. Und das ist für das so zerrüttete Volk von der anderen Seite des Mittelmeeres kein neuer Umstand.
Eine „ Katastrophe“nämlich – arabisch Nakba – gilt als die verbindende Erfahrung der Menschen Palästinas überhaupt. 1948, als die dem Holocaust entkommenen Juden ihre Zuflucht im neuen Israel in Empfang nahmen – und sogleich von den arabischen Nachbarn attackiert wurden – war es gleichbedeutend mit der Vertreibung von 700.000 Alteingesessenen. Wie sich erst später zeigte, wurden diese Araber teils blutig aus ihren Dörfern gejagt. Doch die Nakba blieb kein Ereignis der Vergangenheit, sondern wurde, mit Israels aggressiver Expansion auf die angrenzenden Gebiete, zum Dauerzustand für die Palästinenser.
Mit dieser Last auf den Herzen flüchteten die meisten in die Nachbarländer, Jordanien, Libanon, Syrien. Ins ferne Chile zog auch eine bedeutende Minderheit. Aber auch in Spanien legten nach und nach Palästinenser an. „ Es kamen in den 60ern und 70ern vermehrt junge Menschen zum Studieren her“, erzählt Al-Sheik. Die meisten seien geblieben, viele hätten Spanier und Spanierinnen geheiratet. „ Nun wächst schon ihre dritte Generation heran.“Der Vorsitzende selbst sei, nach vielen Umzügen, erst 1993 aus Paris nach Spanien gelangt.
Seit sechs Jahren leitet er den 1987 gegründeten Verein in Valencia. „ Wir sind keine große Gemeinschaft, aber eine, die seit 40 Jahren da ist und nie Probleme machte, sondern sich immer vorbildlich integrierte“, betont der Palästinenser. Gut gebildet und arbeitsam sei die Community in Spanien. Über 280 Mediziner allein im Land Valencia, meint Al-Sheik, hätten palästinensische Wurzeln.
Auf tiefen Wurzeln beruhe die Nation. Bis ins uralte Jericho im Westjordanland führten ihre Spuren.
Palaestina – so tauften die Römer ihre Ostprovinz, als Verweis auf die Philister. Also das Volk des Goliath, der sich einst mit Israels späterem König David das epische Duell lieferte – noch 1.600 Jahre vor dem Islam. Doch erst nach dem Ersten Weltkrieg und dem Fall des Osmanischen Reiches taucht im britischen
Mandat Palästinas Name wieder auf. Die bekannte Flagge in den panarabischen Farben kam 1948 hinzu.
138 von 193 UN-Mitgliedstaaten erkennen Palästina als Staat an – und auch Spanien will sehr bald dazustoßen, wie Präsident Pedro Sánchez bei seiner Ostervisite im Nahen Osten, mitsamt Forderung nach Waffenstillstand in Gaza, erklärte. Ganz im Gegenteil zu Israel, dessen konservativste Stimmen eine eigene nationale Identität der Palästinenser bis heute ablehnen.
Was aber zeichnet dieses Volk, das die meisten nur mit dem Palästinensertuch – der ideologisch sehr belasteten Kufiya – verbinden, im
Wesentlichen aus? Das fragen wir den Sprecher der Comunidad Palestina. Die Sprache jedenfalls sei im Vergleich zu anderen arabischen Ländern höchstens in Nuancen verschieden. „ Nur wir Muttersprachler erkennen: der ist Algerier oder der aus Libyen“, so Al-Sheik.
Der sunnitische Islam ist in der geografischen Gegend als Religion ebenfalls alles andere als exklusiv. Aber es gebe da etwas, das die Nation in tiefster Weise zusammenhalte. „ Wir alle tragen unser Anliegen in den Herzen“, sagt der Palästinenser, „ und geben es weiter, von Generation zu Generation“.
Einmal neu einkleiden
Der unschuldigsten Generation ist der 5. April gewidmet: Der Tag des palästinensischen Kindes. Das absolute Desaster erlebten die Kleinen in Gaza, aber Elend herrsche auch in den anderen Zonen. Das erzählt Rabah Boughena Si Bachir, Direktor der Stiftung Capp aus Valencia, die seit 2007 humanitäre Hilfe in palästinensischen Krisengebieten leistet. Der Jurist selbst sei kein Palästinenser sondern Algerier, und Capp ein Kollektiv vieler Nationen, darunter zahlreiche Spanier.
„ Der Zugang wird uns zusehends verweigert“, beklagt Boughena die Lage in Palästina. „ 1.200 Waisenkinder versorgen wir direkt. Und wir haben eine Liste von 30.000 Waisen vorliegen, die Betreuung benötigen.“Eine Patenschaft für ein Kind, mit finanzieller, aber auch moralischer Unterstützung, kann auf fundcapp.org unter Apadrinamiento (Englische Version: Sponsorship) angemeldet werden. Im Shop finden sich viele Charity-Güter.
Bei der Direktversorgung in Gaza seien Anlässe wie der Ramadan eine Priorität. Zum Abschluss des Fastenmonats bemühe sich Capp, möglichst viele Kinder mit schicker Kleidung auszustatten. Damit sie sich zumindest zum Fest in das Gefühl eines neuen Anfangs kleiden können (Youtube: „ Reparto de Ropa del Eid en Gaza“). Zu feiern
– trotz nicht enden wollender Katastrophe –, auch das sei „ eine Form des Kampfes“, betont Boughena.
„ Unter den Trümmern ist noch Leben. Wir alle wollen leben. Auch aus dem Tod geht noch Leben hervor. Das ist unsere Botschaft“, sagt der Helfer für Palästina.
„Wir alle tragen unser Anliegen in den Herzen und geben es weiter, von Generation zu Generation“