Die leere Kiste im Massengrab
Alicantinerin stellt erste Anzeige wegen geraubter Zwillingsschwester – Wegen „Verjährung“abgelehnt
Alicante – ann. 1962 bringt Francisca Robles Aracil im Krankenhaus von Alicante Zwillinge zur Welt, zwei Mädchen. Sie werden von der Mutter getrennt und kommen ins Neugeborenenzimmer. In der zweiten Nacht im Krankenhaus steckt eine Nonne den Kopf durch die Tür und sagt, das eines der beiden Babys verstorben ist. Dem Vater, Antonio Picó, trägt ein Mann im weißen Kittel am nächsten Tag auf, sofort eine Holzkiste zu kaufen, um das Kind schnellstens zu bestatten. Das tote Baby lässt man die Eltern nicht sehen, auch der Wunsch, es in Elche im Familiengrab zu bestatten, wird verweigert. Die versiegelte Kiste wird in ein Massengrab auf dem Friedhof von Alicante gelegt.
2011 erfährt die Familie im Fernsehen erstmals von den „ geraubten Babys“, bei denen ein kriminelles Netzwerk aus Ärzten, Angehörigen der katholischen Kirche, Anwälten und Beamten Tausende von Neugeborenen für die Eltern für tot erklärte, um sie dann anderen Familien für eine Adoption zu übergeben. Die Familie erkennt in dem Beitrag so viele Parallelen zur Geschichte ihrer Tochter, dass deren Zwillingsschwester María José Pico Robles im Jahr 2012 bei der Staatsanwaltschaft eine Exhumierung erwirkt. Bei der Öffnung der Kiste auf dem Friedhof von Alicante ist diese leer. „ Meinen Vater nach 50 Jahren zu sehen, als er merkt, sie haben dich betrogen, sie haben dir eine Kiste gegeben und gesagt, dass darin deine Tochter liegt, und du hast eine leere Kiste begraben, zu sehen, wie jemand Zeuge einer solchen Grausamkeit wird, das lässt mich noch entschiedener weitermachen und mich sicher sein, dass ich sie finden werde“, sagt María José Picó.
Die 61-Jährige hat im März wegen des Verschwindens ihrer Zwillingsschwester die erste Anzeige im Fall eines geraubten Babys in Spanien gestellt. Jetzt wurde die Klage wegen Verjährung zurückgewiesen, weshalb María José Pico vor die nächste Instanz ziehen will. „ Doch ich glaube, dass niemals jemand den Mut und die Kraft haben wird, diese Geschichte aufzudecken und dass die Fälle nie untersucht werden, weil zu viele Personen und Institutionen involviert waren“, sagt die 61-Jährige gegenüber der CBN. „ Wir wissen, dass wir nichts erreichen werden, aber wir müssen trotzdem weitermachen“, sagt die Vorsitzende von AVA, ein Kollektiv, das sich für eine staatliche DNA-Bank einsetzt, damit Angehörige verschwundene Kinder oder Geschwister leichter finden können, sowie für Exhumierungen bei Verdachtsfällen.
In der Region Valencia könnte die Suche nach geraubten Kindern bald noch schwieriger werden, weil PP und Vox das Gesetz für historische Erinnerung ändern wollen (CBN berichtete). Paco Alarcón, Sekretär von AVA, bringt am Freitag, 3. Mai, vor dem Landtag Argumente gegen das Gesetz vor. AVA hat zwischen 1951 und 1990 über 10.200 Bestattungen von Föten und Babys auf dem Friedhof von Alicante dokumentiert, 80 Prozent davon in Massengräbern. Bei vier richterlich angeordneten Exhumierungen waren die Kisten leer. „ Wie viele sind es noch?“fragt sich Paco Alarcón, dessen Frau ebenfalls eine verschwundene Schwester sucht.
Die ersten Fälle geraubter Babys gehen auf die Anfänge der FrancoDiktatur zurück. Basierend auf der Theorie des „ roten Gens“des Psychiaters Antonio Vallejo Nájera und per Gesetz wurden Neugeborene bis in die 50er Jahre von republikanischen Müttern geraubt, von denen man glaubte, sie würden die „ Krankheit“der marxistischen Ideologie an ihre Kinder weitervererben. „ Oft handelte es sich um inhaftierte Republikanerinnen, die wenig später exekutiert wurden, und die sich bewusst waren, dass ihre Babys weggenommen wurden, um als Kinder einer Familie mit Ideen aufzuwachsen, gegen die sie gekämpft hatten, sie starben mit dieser doppelten Tragödie“, sagt Soledad Luque, Vorsitzende der Vereinigung „ Todos los niños robados son también mis niños“.
Auch später wird der Kindesraub in einer unterdrückten Gesellschaft und „ unter dem Deckmantel des Nationalkatholizismus weitergeführt“, erklärt Luque. Doch jetzt werden die Kinder im Krankenhaus weggenommen, den Müttern wird gesagt, ihr Kind sei gestorben. „ Zu jener Zeit war es so, was ein Arzt dir sagte, das war indiskutabel“, erklärt María José Pico. Die letzten bekannten Fälle ereigneten sich sogar noch in der Demokratie.
María José Picó Robles gibt die Hoffnung nicht auf, ihre Schwester zu finden. „ Du sorgst dich, in welche Familie sie wohl gekommen ist, wie und wozu, und da ich das Glück hatte, von meinen Eltern geliebt zu werden, ist es für mich notwendig und ich schulde es ihr, sie zu suchen, solange ich kann. Ich weiß, es ist ein Traum, aber ich besitze immer noch die Gewissheit, dass ich sie finden werde.“