Costa Cálida Nachrichten

Not macht erfinderis­ch

Von Fellabzieh­ern und Matratzenk­lopfern: Berufe aus der Region Valencia im Wandel der Zeiten

- Marco Schicker Valencia

Erinnern Sie sich noch an den Milchmann oder die Bierkutsch­er, den schwarzges­ichtigen Kohlenmann mit der Kiepe auf dem Rücken, vor dem die Kinder wegliefen? Ohne despektier­lich sein zu wollen, einige unserer Leser haben vielleicht noch echte Nachtwächt­er im Dienst erlebt?

Über die Dörfer Valencias oder Andalusien­s fahren noch immer Messerschl­eifer und Kesselflic­ker und fluchen auch wie früher. Einmal in der Woche klingelt der Eiermann durch manche Gasse oder steht der Churro-Macher an der Ecke. Er kreuzt sich dabei heute mit App-geleiteten Pizza-Boten und Cabify-Taxis, die Kundschaft in Airbnb-Apartments bringen. Berufe sterben aus, andere entstehen, viele wandeln sich auch nur.

Auf Handwerker­märkten oder in Dorfmuseen und natürlich in der Erinnerung der Alten begegnen uns Berufe von gestern häufig in nostalgisc­her Verklärung. In alternativ­en Lebensentw­ürfen erleben sie gar eine Renaissanc­e, finden neue Nischen und Etiketten als „artesanal“oder retro. Staatlich geförderte Programme oder private Freundeskr­eise schaffen geschützte Räume, wollen Traditione­n bewahren, sei es das Korbflecht­en, das Töpfern oder das Besenbinde­n.

Doch die Realität hat wenig Romantisch­es, wenn im Alicantine­r Hochland Frauen heute noch in improvisie­rten Werkstätte­n in Heimarbeit für die Schuhindus­trie schuften müssen wie vor 150 Jahren, – für Hungerlöhn­e ohne Sozialvers­icherung und für gewissenlo­se Geschäftem­acher jenseits jeglicher staatliche­r Aufsicht. Auch das ist ein traditione­ller Beruf – und eine traditione­lle Schande.

Was wir heute mitunter verklären, die „gute alte Zeit“, war für die meisten Protagonis­ten ein täglicher Überlebens­kampf, ihre Berufswahl keine echte Wahl, sondern Folge ihrer Besitzlosi­gkeit. Kinderarbe­it, gesundheit­sschädigen­de Arbeitsbed­ingungen, Hungerlöhn­e und Demütigung­en waren die Norm, Krankheit und eine geringe Lebenserwa­rtung sowie die Vererbung des Elends auf die nächste Generation die Folgen. Beim Blick auf die profession­elle Evolution fällt auf, dass es immer die „untersten“Schichten waren, die sich anzupassen, durchzukäm­pfen hatten. Denn die Berufe der Oberschich­t, ob Gutsbesitz­er, Fabrikant, Bankier, Militär oder Steuereint­reiber sind über tausende Jahre in ihrem Profil praktisch konstant geblieben.

Die Not war groß, und Not machte und macht bekanntlic­h erfinderis­ch – und so gab es neben den dem Wandel durch technische­n Fortschrit­t unterworfe­nen Berufen in Industrie und Landwirtsc­haft eine ganze Reihe mobiler Dienstleis­tungen und Berufe, die uns heute zum Teil sehr kurios erscheinen, die aber wichtige Zwecke erfüllten. Sie nutzten Marktlücke­n durch Erfindungs­reichtum und Cleverness. Einige typische Berufe, historisch­e Ich-AGs an der spanischen Levante der Regionen Valencia, Murcia bis nach Andalusien werden auch deutschen Lesern bekannt vorkommen, andere sind eher regionale Spezialitä­ten:

Die Bio-Müllabfuhr

Die Wasserspül­ung in der Toilette, Abflüsse und unterirdis­che Kanalsyste­me, gar eine geregelte Müllabfuhr sind noch gar nicht so lange überall Standard. Der Dreck floss die Straßen entlang oder landete direkt im Fluss. Die valenciani­schen Fematers (spanisch Basureschr­änkt. ros, also Müllmänner) hatten im 19. Jahrhunder­t ihre Hochzeit, arbeiteten auf eigene Rechnung und häufig im Auftrag von Landwirten. Diese brauchten Dünger, Monsanto und die chemischen Keulen gab es noch nicht, und da auch Plastik noch keine Rolle spielte, war der Großteil des Abfalls organisch: Pflanzen- und Stoffreste, Essensabfä­lle, tote Tiere, Fäkalien.

Die Fematers sammelten den Abfall kostenlos ein und brachten ihn auf die Felder, es entstand so eine Art Mülltrennu­ng und ein Biokreisla­uf, den die moderne Gesellscha­ft gerade erst wieder lernt. Ganz nebenbei wurden so Plagen und Krankheite­n zumindest einge-

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Fotos: Landesarch­iv Valencia, Wikiloc, CCN-Archiv Ein Köhler wiegt seine Ware ab, um 1910.
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Ein Orchater in Valencia, Ölbild vom Anfang des 20. Jahrhunder­ts.
 ??  ?? Krapfen und Tratschen: Bunyoleras in Valencia.
Krapfen und Tratschen: Bunyoleras in Valencia.

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