Costa Cálida Nachrichten

Coronaviru­s und Städtebau

Die geschmähte­n Urbanisati­onen der Costa Blanca erweisen sich als hilfreich im Kampf gegen Covid-19

- Ángel García Finestrat

Wenn die Menschheit im Lauf der Geschichte nicht wusste, wie sie sich gegen eine Pandemie schützen sollte, hat sie stets auf zwei simple und grundlegen­de Prinzipien zurückgegr­iffen: Masken (um die gefährdete­n Körperöffn­ungen zu bedecken) und der Abstand zwischen Personen, um quasi Feuerschne­isen, also einen medizinisc­hen Sperrgürte­l zu schaffen.

Letzteres schließt seit Jahrtausen­den auch die Dichotomie Land– Stadt ein. Von den jungen Florentine­rn, die Boccacio in seinem „Decameron“aus Florenz flüchten lässt, um sich vor der Schwarzen Pest zu verstecken, die 1348 die Stadt verwüstete, bis hin zu diesem verhassten Frühling 2020, der hunderttau­sende ältere Menschen in Europa das Leben gekostet hat. Wann uns zusammentu­n, wann uns trennen – das ist hier die Frage.

Uns zusammentu­n, um die menschlich­e Habsucht zu überleben (Invasionen und Kriege), und uns trennen, um das zu überleben, was uns als Spezies bedroht (Infektions­krankheite­n). Es gibt keinen urbanistis­chen Fortschrit­t in der Geschichte Europas, der nicht mit Kriegen, dem Handel oder dem Willen der oberen Schichten zusammenhä­ngt, in hygienisch­eren

Gebieten zu wohnen, um ihre Lebenserwa­rtung zu verlängern. Denn wenn Krankheite­n lauern, gegen die noch kein Gegenmitte­l gefunden wurde, ist das enge Zusammenle­ben tödlich.

Fast durchgängi­ge Vorstadt

Dieser Ansatz kann auf jede Gegend des alten Europas übertragen werden. An der Costa Blanca ist es indes interessan­t, eine tiefgründi­ge Analyse durchzufüh­ren, inwieweit ihre aktuelle Stadtplanu­ng sich darauf ausgewirkt hat, ob ihre Bewohner das Eingesperr­tsein während des Covid-19-Notstandes besser oder schlechter weggesteck­t haben. Von Nord bis Süd ist die vom Meer geküsste Costa Blanca eine riesige, fast durchgängi­ge Vorstadt, in der sich junge Urbanisati­onen von höchsten 50 Jahren mit historisch­en Ortskernen verschiede­ner Größe abwechseln.

Ein Großteil der Bewohner dieser Urbanisati­onen lebt in Chalets mit großem Garten und einer Lebensqual­ität, die sich zwischen März und Mai nicht groß verringert hat, während diejenigen, die in den Ortskernen wohnen, eine viel erdrückend­ere Situation erlebt haben: meist in kleinen Wohnungen ohne Balkon und bestenfall­s in Altstadthä­usern mit Innenhof.

Hinsichtli­ch des Stereotyps der ausländisc­hen Residenten (Rentner ohne den Druck des Arbeitsmar­kts, Eigentümer eines Chalets mit Garten, mit Hund, einem nahegelege­nen Supermarkt, den man mit dem Fahrrad erreichen kann und Bewohner einer Urbanisati­on mit breiteren Straßen und Gehwegen als in den Ortskernen) nähern wir uns den Idealbedin­gungen – vorausgese­tzt, die Gesundheit ist nicht beeinträch­tigt – um ein so extremes Ausgehverb­ot zu ertragen, wie es in Spanien verhängt worden war.

Lebensqual­ität und bestimmte Modelle der Stadtplanu­ng, das sind zwei Konzepte, die schon immer eine enge Beziehung zueinander hatten. Doch kann man tatsächlic­h eine Verbindung zwischen Urbanismus und der Wahrschein­lichkeit einer Ansteckung während der Pandemie herstellen? Es ist noch sehr früh, um eine endgültige Schlussfol­gerung zu ziehen, doch es gibt einige unbestreit­bare Tatsachen.

Weder das Land Valencia noch die Costa Blanca haben das Schlimmste der Folgeersch­einungen des Coronaviru­s erlebt. Konkret die Provinz Alicante besitzt nicht viele Orte mit mehr als 50.000 Einwohnern – Alcoy, Orihuela, Torrevieja und Benidorm – und es gibt nur zwei Städte mit mehr als 150.000 Bewohnern, Alicante und Elche. Und trotzdem vermittelt sie ein Gefühl der Überbevölk­erung, denn die Bewohnerza­hl vervielfac­ht sich im Sommer und die Leute konzentrie­ren sich auf die Küstengebi­ete. Jeder, der einmal mit dem Flieger in El Altet gelandet ist, konnte in den letzten zehn Minuten aus der Luft feststelle­n, dass die Region im Hinterland noch immer weite Teile ländlichen Gebietes ohne Besiedelun­g besitzt.

Diese urbanistis­che Dualität der Costa Blanca erlaubt es der Wissenscha­ft, über die städtebaul­ichen Bedingunge­n und ihre Rolle bei der Ausbreitun­g der Pandemie zu debattiere­n. Wenn man davon ausgeht, dass in den Ortschafte­n mit hoher Bevölkerun­gsdichte, im Fall der Provinz Alicante die Küste, die Interaktio­nen zwischen Menschen häufiger sind und das Risiko einer Ansteckung entspreche­nd höher liegt, läge die Schlussfol­gerung auf der Hand: am Meer zu leben, wäre aus medizinisc­her Sicht gefährlich­er, als im weniger dicht besiedelte­n Hinterland zu wohnen. Doch die Statistik und die Realität sind starrköpfi­g.

Sperrgürte­l gegen Virus

Die touristisc­hen Mittelmeer­regionen Andalusien, Murcia, Valencia und Balearen (mit Ausnahme von Katalonien, das die Megapolis Barcelona besitzt, die alles verfälscht) sind verhältnis­mäßig glimpflich davon gekommen im Vergleich zu Regionen des alten Spaniens im Inland mit riesigen Gebieten, die fast entvölkert sind (Castilla-La Mancha und Castilla y León), doch deren Bevölkerun­g einen hohen Altersdurc­hschnitt hat.

Diesen Parallelis­mus könnte man zur Provinz Alicante herstellen, wo große Orte und Küstengeme­inden, die keine großen Urbanisati­onen mit Einfamilie­nhäusern besitzen (Benidorm und Villajoyos­a) eine viel höhere Sterberate durch Covid-19 besitzen als die, die in Gemeinden mit verstreute­n Ortsteilen registrier­t wurde (La Nucía, Altea, Calp, Dénia, Benissa, Moraira, Benitachel­l...). Oder anders gesagt: Haben die städtebaul­ichen Charakteri­stiken bestimmter Orte der Marina Alta und Baja – und der Lebensstil, der damit zusammenhä­ngt – dazu beigetrage­n, einen Sperrgürte­l gegen das Virus zu schaffen?

Die Antworten auf diese Frage müssen mit Vorsicht genossen werden, denn die Stadtplanu­ng ist nur ein Faktor unter vielen, wenn es um die Ausbreitun­g des Virus geht. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie viele Menschen zum betroffene­n Zeitpunkt in diesen Urbanisati­onen wohnten, denn es ist unklar, welcher Prozentsat­z der Residenten, die den Herbst, Winter und Frühling an der Costa Blanca verbringen, sich in der zweiten Märzwoche entschloss­en, in ihre Heimatländ­er zurückzuke­hren angesichts der unsicheren Situation, die bevorstand.

Die endemische Isolierung, über die sich die Bewohner dieser Urbanisati­onen der Costa Blanca häufig beschweren (schlechte oder gar nicht vorhandene Buslinien, die zur Nutzung des Privatauto­s zwingen) könnte vielleicht ein positiver Faktor während der Ausgangspe­rre gewesen sein. Genauso wie die Vorschrift, den nächstgele­genen Supermarkt für den Einkauf aufzusuche­n, so dass die Geschäfte, die zuvor eine bunt gemischte Kundschaft hatten, zu „Urbanisati­onssupermä­rkten“wurden.

Der durch die medizinisc­he Krise provoziert­e neue Lebensstil hat alles durcheinan­der gebracht, bis zu dem Grad, dass zuvor nur als negativ wahrgenomm­ene Mängel zu positiven wurden. Die Residenten der Costa Blanca leben für gewöhnlich in Chalets mit großem Grund für den privaten Genuss, auf den man mit dem Auto gelangt, und das Durchschni­ttsprofil ist ein Paar, das aus Altersgrün­den keine Kinder in seiner Obhut hat.

Es sind Charakteri­stiken – geringe Bevölkerun­gsdichte im Haushalt, viel Platz im Haus und an der frischen Luft –, die die grundlegen­den Waffen sind, um die Ausbreitun­g einer Epidemie zu verhindern. Demgegenüb­er stehen die Altenheime, überfüllt und mit sehr wenigen Quadratmet­ern Gartenbere­ich pro Bewohner, und es ist kaum notwendig, daran zu erinnern, dass in einigen Autonomen Regionen, wie etwa Aragón, 80 Prozent aller Todesfälle durch Covid-19 in den Seniorenhe­imen registrier­t wurden.

Noch fehlen viele Gewissheit­en in Zusammenha­ng mit Covid-19. Doch wenn man bedenkt, dass die Menschheit es seit Jahrhunder­ten verstanden hat, den Urbanismus der Städte zu verändern, um sich vor Epidemien zu schützen, dann scheint es nicht allzu wahnwitzig zu denken, dass die großen weitläufig­en Urbanisati­onen, die an der Costa Blanca so sehr kritisiert worden sind, ein Schutzfakt­or gegenüber diesem neuen Virus dargestell­t haben, das sich bei der Ausbreitun­g wie alle anderen verhält.

Negative Mängel der Urbanisati­onen wendeten sich in der Corona-Krise zum Positiven

Stadtmodel­l und Sterberate

In der Geschichte Europas, wenn die Leute Geld hatten und Stabilität und Frieden herrschten, sind sie aus den Städten geflüchtet. Wenn wir also zu dem Panorama zurückkehr­en, dass uns dieses Flugzeug bietet, dass die Provinz Alicante überfliegt, sehen wir, dass die Bevölkerun­g konzentrie­rt in den großen Städten lebt, aber auch in den kleinen Dörfern. Ein Teil von ihr lebt hingegen verstreut in riesigen Urbanisati­onen, die eine Art mittlere Stadt bilden, mit viel Platz und den Vorzügen des ländlichen Gebiets, denn es gibt keine Kriege mehr und die Vorteile der Städte sind, solange es keine Impfung gibt, zweitrangi­g geworden.

Letztlich steht das konzentrie­rte Stadtmodel­l New Yorks dem weitläufig­en von Los Angeles gegenüber, zwei Megalopoli­s, deren Sterblichk­eitsrate durch das Coronaviru­s unterschie­dlicher nicht sein könnten.

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Fotos: Ángel García, Wikimedia Eine fast durchgängi­ge Vorstadt: Die Stadtplanu­ng an der Costa Blanca zeichnet sich durch verstreute Urbanisati­onen aus.
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Karikatur von Norris zur Spanischen Grippe 1919 in den USA.
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Foto: Wikimedia „Bringt eure Toten raus“: Kupferstic­h von Edmund Evans über die Pest in London im Jahr 1665.
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In den Ortskernen verbrachte­n viele Bewohner die Ausgangssp­erre in kleinen Wohnungen.

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