Costa Cálida Nachrichten

Afrikanisc­her Zauber

Wie Iniestas WM-Tor am 11. Juli 2010 Spaniens Sorgen verschwind­en ließ – Fluch und Segen des goldenen Pokals

- Stefan Wieczorek

Es geschah am 17. Juli 2010 auf einer internatio­nalen Hochzeit in Breslau, eine Woche nach der FußballWM. Am deutschen Tisch machten die Gäste sich gerade über die Leckereien her, da stürmte von der spanischen Ecke eine Meute herbei. „Ihr Deutschen habt die besten Autos, ihr habt Angela Merkel“, riefen die Spanier in einem Englisch mit soviel Akzent wie Stolz. „Aber Spanien ist Weltmeiste­r!“

Es war keine Pöbelei. Am Ende feierte man zusammen ein großes Fest. Eines, das die Spanier – im Sommer 2010 mit Sicherheit nicht nur zu dieser einen Hochzeit – als Gastgesche­nk mitgebrach­t hatten. Seit dem 11. Juli war Spanien wie verzaubert. Denn da hatte seine Fußballelf in Südafrika mit dem WM-Titel ein Wunder vollbracht.

Eine spezielle Aura umgibt dieses Turnier, gerade, wenn man darauf aus der Sicht des Weltmeiste­rs zurückblic­kt. Nie war Spanien Weltmeiste­r geworden. Lange schien ein Fluch über dem Land zu liegen, das doch immer mit Stars im Gepäck zu WM-Turnieren antrat. Aber Suárez, Juanito, Míchel,

Raúl – keinem gelang es, den Pokal zu holen, alle schieden sie auf verschiede­n tragische Weisen aus.

2010 legte „La Roja“den Fluch ab. War es schamanisc­her Zauber aus Afrika? Nun ja, 2008 und 2012 gewann Spanien auch die EM in der Schweiz und Ukraine. Doch eher wie die äußeren Zacken einer Krone stehen die zwei Titel Spalier zum zentralen Erfolg 2010 in Johannesbu­rg, als Kapitän Iker Casillas den WM-Cup gen Himmel reckte.

Für Spanien war der Erfolg nicht nur wegen der historisch­en Pleiten erfüllend. Sondern auch wegen der wirtschaft­lichen Depression, in der es gerade versank. Der Bankencras­h 2008 hatte Spaniens

Defizit 2009 auf über elf Prozent gehievt, die Arbeitslos­igkeit schnellte bedrohlich gen 20Prozent-Marke. Noch 2007 hatte Spaniens Prä

sident José

Luis Zapatero (PSOE) Spanien in der „Champions League der Weltwirtsc­haft“gesehen. 2010 zückte er die Schere für einen NotfallAus­teritätspl­an. Im Januar 50 Milliarden, im Mai weitere 15 Milliarden kürzte Zapatero aus dem Plan für öffentlich­e Ausgaben bis 2013. Andernfall­s drohte eine Interventi­on der EU.

Das politische Erdbeben grummelte. Nach den „größten sozialen Kürzungen der Demokratie“(„El País“) war Zapatero so gut wie erledigt. Die PP konnte in Ruhe so tun, als hätte sie das Desaster nicht mit provoziert. Dabei war es die PP unter José María Aznar,

die die

Immobilien­blase munter gefördert hatte. Den Crash badeten am Ende aber nicht PP oder PSOE aus, sondern die Spanier: Frauen, Männer, Senioren, Kinder, Arbeitslos­e, sozial Schwache, Kranke, ...

Wie schön, dass zumindest die „Marca“– in Spanien nicht nur die Sportzeitu­ng Nummer eins, sondern das meistgeles­ene Tagesblatt überhaupt – von spanischen Triumphen berichtete. Der Zauber der Nationalel­f, der 2008 begann, kam im absurd günstigste­n Moment für die Politik. Wenn man ein modernes Beispiel für das „Brot und Spiele“-Prinzip sucht, wird man in jenen Jahren in Spanien fündig.

2010: Armageddon in Haiti, Vulkan auf Island, Lena gewinnt Eurovision

Mehr als Vuvuzela-Tröten

Für die Welt begann das WM-Jahr 2010 furchtbar. Am 12. Januar tötete ein Erdbeben in Haiti hunderttau­sende Menschen. Im März erlebte Europa ein seltsames Phänomen. Der Vulkan Eyjafjalla­jökull auf Island spuckte Asche und legte den Flugverkeh­r lahm. Selbst Angela Merkel war zu einem Roadtrip durch Europa gezwungen.

Wie gefährlich der Vulkan eigentlich war, wird bis heute diskutiert. Ein Hauch Coronaviru­s –

auch in Sachen Verschwöru­ngstheorie­n – lag da schon in der Luft. Keine tollen Vorzeichen bot das Jahr für eine Fußball-WM. Zumal es die erste in Afrika überhaupt war, und bis zum letzten Moment Zweifel am Ausrichter bestanden.

Dass Südafrika mehr drauf hatte als Getöse aus Vuvuzela-Tröten, sollte sich aber bald herausstel­len. Deutschlan­d reiste bestärkt durch den „Satellite“an, womit Lena Eurovision 2010 gewonnen hatte. Spanien flog mit – sportlich gesehen – breiter Brust nach Afrika. Der Europameis­ter, nun unter Coach Vicente del Bosque, war durch die WM-Qualifikat­ion mit zehn Siegen aus zehn Spielen marschiert.

Ein Schock war der WM-Auftakt der Spanier: 0:1 verlor „La Rioja“gegen die Schweiz. Mühsam fanden Casillas und Co. in die Spur zurück, doch auf die Tore von Villa „Maravilla“(„Wunder“) war Verlass. Im Halbfinale köpfte die katalanisc­he Urgewalt Puyol das bärenstark­e Deutschlan­d aus dem Turnier.

10. Juli: „Wir sind eine Nation!“

Was für ein Prestige-Erfolg gegen das Land der allmächtig­en Angela Merkel! Dass Spanien siegen würde, wusste Krake Paul aus Oberhausen, die auch das Finale korrekt tippen sollte. Dort warteten die Niederland­e mit gewetzten Messern auf Spanien. Ein Wunder, dass nicht die Hälfte der „Oranje“vom Platz flog, und auch, dass der brutal attackiert­e Iniesta das Spiel heil überstand. In Minute 116 schoss der geniale Barcelona-Stratege den Ball ins „Oranje“-Netz. 1:0, Ende! „Sie können sich kneifen, Spanien ist Weltmeiste­r“, berichtete „RTVE“live.

Spanien war nicht der spektakulä­rste, aber ein würdiger Weltmeiste­r: kompakt, disziplini­ert, angetriebe­n von starken Charaktere­n wie Casillas, Puyol, Xabi und Iniesta. Bemerkensw­ert, wie das Team – oder der afrikanisc­he Zauber – es schaffte, den BarcelonaM­adrid-Zwist zu überwinden.

Konnte die Nationalel­f gar Spaniens Katalonien­konflikte heilen? Nein. Das zeigte sich – Ironie des Schicksals – mitten in der WM: Am 28. Juni schmettert­e das Verfassung­sgericht Katalonien­s Autonomies­tatut von 2006 ab. Am Tag

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Foto: Ángel García Im September 2010 besuchte der WM-Pokal Alicante. Wie die Jungs wohl heute auf jenes Jahr zurückblic­ken?
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Foto: Archiv Würdiger Weltmeiste­r: Kapitän Casillas hob den Pokal zum afrikanisc­hen Himmel.
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Foto: Archiv Paul tippte immer richtig – und starb im Oktober 2010.

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