Costa Cálida Nachrichten

Rastro Faszinatio­n Tai Chi

Renata Libera aus München über ihre persönlich­e Erfahrung mit der sportliche­n und geistigen Praktik

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Heute Morgen am Strand Raco de Albir: Scharf zeichnet sich der glutrote Feuerball am Horizont ab. Rasch gewinnt er an Höhe. Auf der blauen glatten Meeresober­fläche liegt ein breites silbern glitzernde­s Band. Weit hinter den Bojen ankert ein Segelschif­f mit eingezogen­er Takelage. Die ersten Sportschwi­mmer tauchen in die Wellen ein, ein Stand-up-Paddler hält Kurs quer zum Strand. Barfüßig tastet sich eine Familie mit zwei kleinen Kindern über die spitzen Steine des Ufers zu den Schaumkron­en vor. Zwei Männer von der Strandrein­igung sammeln angeschwem­mten Unrat in großen schwarzen Gummi-Eimern ein, säubern die Promenade von achtlos weggeworfe­nen Zigaretten­kippen und desinfizie­ren Sitzbänke, Balustrade­n, Abfalleime­r – eben einfach alle Gegenständ­e, mit denen Spaziergän­ger oder Sportler in Berührung kommen könnten. Es sind immer die gleichen Mitarbeite­r, die an unserer Tai Chi Gruppe vorbeikomm­en, und so kennt man sich und grüßt sich gegenseiti­g mit einem leichten Kopfnicken oder einem aufmerksam­en Blick.

Bald wird die Sonne hoch oben hinter den Schönwette­rwölkchen gelblich-weiß durchschim­mern und unsere heutige Aufwärmpha­se ba duan jin geht zu Ende. Wang Zhen, unsere chinesisch­e Tai Chi Maestra, startet dann wie jeden Morgen gegen 8 Uhr mit uns, der kleinen Gruppe Tai Chi Begeistert­en, mit der ersten Übung Tai Chi 24. Darauf folgt meist die Form 42 des Stils „yang“. Am Wochenende können auch einfache Übungen mit dem Fächer dazu kommen.

Über ein Jahr ist seit meinem ersten Bericht „Tai Chi am Strand Roco de Albir“– veröffentl­icht in den Costa Blanca Nachrichte­n – vergangen. Ich habe inzwischen fast alle Gruppenmit­glieder kennengele­rnt. Manche, so wie ich, kommen immer wieder nur für einige Wochen aus dem Ausland hier her. Doch übers Jahr verteilt kennt man nahezu alle Tai Chi Eifrigen. Zum Beispiel Paco, ein spanischer Rentner, der jeden Tag ab 7.30 Uhr als einer der ersten von uns am Strand mit seinem Elektromob­il eintrifft, an dessen Heck die spanische Flagge weht und der trotz seiner großen Rückenprob­leme unermüdlic­h mitübt. Er ist bei uns allen beliebt und uns ein besonderes Vorbild. Konnte er vor einem Jahr nur sehr gebückt aus seinem Elektromob­il aussteigen, so gelingt ihm dies jetzt schon in nahezu aufrechter Haltung. Dank der täglichen Übungen fällt es ihm auch bereits leichter, das Gleichgewi­cht bei den Qi Gong-Übungen zu halten. Nur noch selten muss er Halt an der großen Palme suchen.

Abends auf dem Dorfplatz

Auch Carlos, der mit dem Rad angeflitzt kommt, andere wie José, Martina, Angel, Dino oder Toni, die zu Fuß um die Ecke biegen, oder wie – auch schon von Weitem an der aufrechten Kopfhaltun­g, dem durchgestr­eckten Rücken und dem Schwertköc­her über der Schulter erkennbar – Wang Zheng, unsere Maestra de Tai Chi. Sie alle erreichen gegen 19.30 die Plaza an der Casa de Cultura.

Die Plaza an der Casa de Cultura? Ja, Sie haben richtig gelesen, seit geraumer Zeit übt Wang Zhen nicht nur morgens am Strand mit uns, wer will kann auch am Abend ab 19.30 Uhr zum Platz am Kulturhaus kommen und dort Tai Chi praktizier­en.

Ist auch ein neuer Übungsort hinzugekom­men, so sind Wang Zhens große Liebenswür­digkeit, ihr unermüdlic­her Lehreifer und ihre freundlich­e Hingabe an ihre Übungsteil­nehmer stets gleichgebl­ieben. Zufällig habe ich sie eines Abends an der Plaza entdeckt und sie gefragt, wie es kommt, dass sie jetzt hier abends Unterricht erteilt. Sie erzählte mir, dass sie ihr Geschäft

mit Souvenirs und Strandarti­keln in Albir, das coronabedi­ngt nur noch schleppend ging, aufgeben musste und so nun auch abends Zeit für Tai Chi Unterricht hat. Und dann fügte sie am Ende des Gespräches höchst freundlich doch auch mit einer gewissen Bestimmthe­it in der Stimme hinzu: „Du kannst immer kommen, morgens und auch abends“. Nun, da ich in Deutschlan­d alleine weiter üben muss und deshalb alle Bewegungsa­bläufe sicher im Gedächtnis behalten sollte, nahm ich gerne an.

Die Stimmung an der Plaza ist für mich eine ganz andere als am Strand. Die Plaza ist zwar sehr groß, doch man vernimmt von der Ferne den Lärm der Straße. Gegen 18.30 Uhr wirft der hohe Bau der Casa de Cultura über einen Teil des Platzes Schatten, so dass wir beim Üben nicht so leicht wie am Strand ins Schwitzen kommen. Am Ende der Plaza steht ein großer breiter gleichmäßi­g gewachsene­r wunderschö­ner Olivenbaum. Diesen haben wir während des Übens oft im Blick wie auch die meterhohen Palmen, die den Platz umringen. Auf den Sitzbänken rund um die Plaza nehmen vornehmlic­h ältere Paare Platz, wohingegen die Steinstufe­n hinauf zum großen Eingang der Casa de Cultura der Dorfjugend „gehören“. In der Dämmerung führen die erwachsene­n Enkel ihre Omas und Opas zu einem kleinen Spaziergan­g über den Platz aus, ein schöner Anblick wie sich die Familie ihrer älteren Verwandten annimmt. Mütter helfen ihren kleinen Kindern beim Dreiradfah­ren oder sehen ihnen beim Rollerfahr­en oder bei einfachen Ballspiele­n zu. Hier, auf dem „Dorfplatz“spielt sich das Dorfleben wie eigentlich in vielen spanischen Dörfern des Südens noch im gleichen Rhythmus ab – so wie ich es zumindest vielerorts erlebt und gesehen habe und hier ist trotz Tourismus doch vieles noch so wie früher.

Poco a poco

Doch zurück zu den Tai Chi Übungen. Ging es bei mir in den ersten Monaten darum, den groben Bewegungsa­blauf der Übungen 24 und 42 zu erfassen, so folgten im zweiten Halbjahr Momente, in denen der Blick auf die Hand- und Fingerhalt­ung, die Fußspitzen, die Blickricht­ung und den synchronen Verlauf von Teilbewegu­ngen gelenkt wurde. Dem Daumen kommt eine besondere Bedeutung zu. Er sollte bei vielen Bewegungen bewusst nach oben deuten, der Handballen beim Absenken der Hand mit einem leichten Druck gegen den Boden geführt werden, und natürlich, sollte man sich, was mir lange Zeit wirklich sehr schwer fiel, sich möglichst fast ausschließ­lich mit leicht angewinkel­ten Knien bewegen. Klingt schwierig, ist es auch aber „Übung macht den Meister“und so gelingt es mir mit der Zeit, meine Bewegungen immer runder, immer fließender auszuführe­n. Jeden Tag entdecke ich

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Foto: privat Fächerübun­gen gehören auch zur großen Bandbreite des Tai Chi.

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