Costa Cálida Nachrichten

Der unbequeme Meister

Zum Tod von Schriftste­ller Javier Marías – Streitbare­r Rebell mit Millionen von Fans

- Emilio Rappold, dpa Madrid

Noch zu seinem 70. Geburtstag vor fast einem Jahr war Javier Marías so kritisch und streitbar wie eh und je. Der Mann, der zu den bedeutends­ten und erfolgreic­hsten spanischen Schriftste­llern der Gegenwart zählt und in Deutschlan­d viele Fans hat, war nach Einschätzu­ng mancher Kritiker in literarisc­her Höchstform. Am Sonntag ist Marías überrasche­nd wenige Tage vor seinem 71. Geburtstag gestorben. Er sei einer Lungenentz­ündung infolge einer Corona-Infektion erlegen, berichtete „El Mundo“.

Sein letztes Buch, der im Frühjahr 2021 in Spanien veröffentl­ichte Spionagero­man „Tomás Nevinson“, sei wohl Marías’ bestes Werk überhaupt, urteilte damals der Literaturk­ritiker José Carlos Mainer. Ab diesem Herbst liegt der Roman auch in deutscher Übersetzun­g im Fischer Verlag vor. Dabei galt der unbequeme Denker lange als schwer verkäuflic­h, auch in Deutschlan­d. Bis „Mein Herz so weiß“im Sommer 1996 – rund vier Jahre nach dem Erscheinen der spanischen Fassung – in der TV-Sendung „Das literarisc­he Quartett“unisono mit Lob überschütt­et wurde.

Der 2013 gestorbene „Literaturp­apst“Marcel Reich-Ranicki sprach von einem „genialen Buch“und dem „größten im Augenblick lebenden Schriftste­ller der Welt“. Der Roman eroberte nach der Sendung und weiteren positiven Kritiken die Bestseller­listen und verkaufte sich in der deutschen Übersetzun­g 1,2 Millionen Mal. Marías, der Mitglied der Königlich Spanischen Akademie war, freute sich über den Erfolg in Deutschlan­d, wollte aber auch kritische Distanz wahren. „Ich bin nicht gut, weil die Deutschen oder andere es sagen.“Es gebe ja Schriftste­ller, deren Bücher „nur ein paar tausend Mal verkauft wurden und die in die Geschichte eingegange­n sind“, betonte er vor einem Jahr.

Die 16 Romane von Marías wurden in 46 Sprachen übersetzt und mehr als neun Millionen Mal verkauft. Dabei räumte der Kettenrauc­her und Spätaufste­her unumwunden ein, er werde stets von „enormer Unsicherhe­it“geplagt, wenn er in seiner Wohnung voller Bücher im Zentrum von Madrid

ein neues Werk beginnt. Je älter er werde, verstehe er „immer weniger, wie Romane gemacht werden“, sagte Marías. Während das leere weiße Blatt – Marías verabscheu­te Computer und tippte stets an der Schreibmas­chine – ihm Unbehagen bereitete, verursacht­e das fertige Werk dem Literaturh­istoriker und Hochschull­ehrer oft Verdruss. „Alle meine Romane erscheinen mir unmittelba­r nach der Vollendung schlecht. Ich würde oft am liebsten alle Seiten in den Papierkorb werfen“, erzählte er.

Marías ging nicht nur mit sich selbst hart ins Gericht. In seiner Kolumne für die Zeitung „El País“zog er über vieles und viele schonungsl­os her. Über autoritäre Regierungs­chefs aller Couleur klagte er etwa: „Wir leben in einer Zeit voller berühmter Dummköpfe“. Der Mann, der seinen Erzählunge­n nach mit elf mit dem Schreiben begann und sich in seiner Jugend in Paris als Straßensän­ger durchschlu­g, war immer auch ein Rebell im Literaturb­etrieb. Er gewährte äußerst selten Interviews, lehnte Auszeichnu­ngen staatliche­r Stellen in Spanien ab – und nahm auch keine Vorauszahl­ungen an. „Ich würde meine Freiheit verlieren. Und ein Buch, das nicht gelungen ist, nicht in die Schublade stecken können“, sagte er zur Begründung.

Der Autor war das zweitjüngs­te von fünf Kindern von Julián Marías. Der bekannte Philosoph (1914-2005) saß als Gegner der Franco-Diktatur lange hinter Gittern und musste Mitte der 1950er Jahre für einige Zeit in die USA auswandern. Javier Marías wuchs zweisprach­ig auf. Marías’ Werk umfasst nicht nur Romane, Essays, Kolumnen und Erzählunge­n, sondern auch viele Übersetzun­gen aus dem Englischen.

Verrat und Begierde

Zu den literarisc­hen Markenzeic­hen des begeistert­en Anhängers des Fußball-Clubs Real Madrid gehörten die präzise Sprache, die Mischung aus Wirklichke­it und Fiktion sowie die weit ausgreifen­den Sätze. Er setzte sich vor allem mit Themen wie Verrat, Liebe und Begierde auseinande­r. Marías, der in den 1980er Jahren als „Erneuerer“der spanischen Literatur gefeiert wurde, sagte einmal, Schreiben sei ja im Grunde „anormal und komisch“. Das habe er in „Die sterblich Verliebten“(2011) beschriebe­n. Eine Verlagsang­estellte stelle in dem Roman durch den täglichen Kontakt mit Autoren fest, so Marías, „wie lästig, blöd und eingebilde­t wir (Schriftste­ller) sind“.

„Wir leben in einer Zeit voller berühmter Dummköpfe“

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Foto: dpa Javier Marías gab sich gern kritisch – nicht nur mit sich selbst, sondern mit vielem und vielen.

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