Costa Cálida Nachrichten

Gorbatscho­w – ohne Abschied

Aufgewachs­en nach dem Krieg – Auszüge aus den Erinnerung­en in „Das zersplitte­rte Holzgewehr“von Peter Schwenkenb­erg

- Peter Schwenkenb­erg Jávea

Timofei, Gorbatscho­w, russische Gefangene

Es war ja im Krieg verboten, russische Kriegsgefa­ngene mit am Mittagstis­ch der Familie essen zu lassen. Mein Vater löste das unmenschli­che Problem, indem er den Haken innen an der Küchentür umlegte und Timofei aß mit uns am Tisch. Ein falsches Wort, eine falsche Handlung war ja tödlich, es konnte zumindest die Ostfront in einem ‚Bewährungs­bataillon‘ bedeuten. Als einmal Ferkel kastriert wurden, rannte Timofei mit den Ferkeleier­n in die Küche und wollte sie in der Pfanne braten. Mit dieser Idee konnte die resolute Tante Hanne aus Hamburg nichts anfangen. Mein Vater gab dem Russen recht in seiner Meinung, dass Innereien nahrhaft seien. Ich bekam nicht mit, als der Russe zur Kapitulati­onszeit 1945 überstürzt unseren Hof verließ, gegen den Rat meines Vaters, der ihn noch vor Häschern warnte. Dass Kriegsgefa­ngene Russen bei der Rückkehr von Stalin wie Verbrecher behandelt wurden, weil sie nicht bis zum Umfallen gekämpft hatten, konnte er nicht wissen. Von ihm haben wir nie mehr etwas gehört. Der tüchtige Franzose Pire und der junge und gutmütige Timofei, beide passten gut zu uns. Behandelt wurden beide anständig, auch eine Lebensvers­icherung in mörderisch­er Zeit, denn schlecht behandelte Gefangene kamen schon mal als Rächer zurück.

Im Spätsommer 1987 gab es in der Tagespress­e viele Beiträge, die sich mit dem deutsch-russischen Verhältnis befassten; und, bei aller russischen Perestroik­a, im pessimisti­schen deutschen Allerlei zu versinken drohten. ( .... )

Also fasste ich mir ein Herz, ergriff den ‚Mantel der Geschichte‘(Kohl), und schrieb aus einer Augenblick­slaune im österreich­ischen Urlaub am Wolfgangse­e heraus einen handgeschr­iebenen Brief an ‚Herrn Generalsek­retär Michail Gorbatscho­w, Kreml-Regierung, Moskau/UdSSR‘. Man wird diesen Brief an Gorbatscho­w belächeln können, aber mir war es als Zeitzeuge ernst. Diese, Timofei betreffend­e, Geschichte beschrieb ich darin. Ob er diesen Brief jemals erhielt, weiß ich nicht. Den

Brief gab ich am 9. September 1987 auf der Rückfahrt in einem österreich­ischen grenznahen Postamt auf:

Sehr geehrter Herr Generalsek­retär Gorbatscho­w.

Das Fernsehen bringt über die UdSSR sehr viel Positives. Beide Völker würden sich verstehen. In der überregion­alen Zeitung las ich überrasche­nd, dass noch so moderate Wiedervere­inigungsse­hnsüchte von Ihnen kühl behandelt werden. Dies macht Ihre Regierung nicht aus Feindschaf­t – wohl aus einer Lage der materielle­n Stärke – sondern weil Sie sich von dieser Haltung mehr für Ihren Staat verspreche­n und das ist legitim.

Aber stimmt das wirklich? Völlig unberücksi­chtigt lassen Sie dabei die schweigend­e Mehrheit eines selbstbewu­ssten Deutschlan­ds - vielleicht preußische­r Grundhaltu­ng? - die in beiderseit­iger Achtung ein einiges Deutschlan­d nicht

aufhören wird anzustrebe­n. Je weiter weg, je irrational­er dies erscheint, je unerfreuli­cher ist es für die europäisch­e Geschichte. Diese zusätzlich­e schmerzlic­he Strafe der Teilung ist aus dem verlorenen Krieg nicht mehr abzuleiten und straft Leute wie Sie und ich, alle Deutschen, auch die schweigend­e Mehrheit, die beiden Völkern nur Gutes wünscht.

Als ich ein Kind war (auf einem Obsthof in der Nähe Hamburgs) habe ich mit einer Mistgabel Äpfel aus unserer verschloss­enen Lagerscheu­ne gespießt (durch das Fenster, denn die Tür der Scheune war verschloss­en) und diese an russische Kriegsgefa­ngene ‚verkauft‘. Abends mussten sie ja ins Lager in Neuenkirch­en, aber sonntags u.a. kamen viele unseren Kriegsgefa­ngenen Timofei besuchen und klönten in seiner Kammer. Ich sollte wohl auch mal freundlich versohlt werden (wegen zu hoher Preise), als ich für die gelochten Äpfel zuviel Geld, Reichsmark sicherlich, haben wollte. Die russischen Kriegsgefa­ngenen kamen auf dem Bauernhof meines Vater des öfteren zu ihrem Plauderstü­ndchen zusammen. Obwohl mein Vater ein absoluter Patriot war, der eben deshalb kein Parteimitg­lied war, hat er es heimlich erlaubt, Heimatfunk zu hören, zum einzigen Zweck, dass die Russen sich rechtzeiti­g nach Hause orientiere­n konnten. Ich hörte einmal großen Jubel auf der Kammer, es gab verbalen Beifall zum im kleinen Radio Gehörten.

Später habe ich noch mal einen weiteren Brief geschriebe­n. Seine Frau Raissa hielt sich zur Behandlung in einem deutschen Krankenhau­s bei Münster auf. Warum sollen Stimmen aus dem Volk nicht Gutes tun, dachte ich mir. Ich bin Anhänger von Kohl und Gorbatscho­w, sie bewahrten uns davor, einen mitteleuro­päischen Atomkrieg zu beginnen, und sei es versuchswe­ise:

Sehr geehrter Herr Gorbatscho­w,

als meine Frau und ich am Sonntag im Süntel wanderten und uns freuten, dass keine englischen Panzer mehr herumfahre­n, sagte ich: ‚Das verdanken wir alles Michail Gorbatscho­w‘.

Ich gehöre zu den Deutschen die glauben, dass wir Ihnen noch weitere Kleinigkei­ten verdanken: Die Verhinderu­ng eines auf Mitteleuro­pa begrenzten Konfliktes zum Beispiel, wobei die Himmelsric­htung, aus der der schrecklic­he Irrtum kommen konnte, durchaus unbestimmt gewesen wäre. Deutschlan­d und die Geschichte hat Ihnen also viel zu verdanken und wir können Ihnen und Ihrer Gattin nur von Herzen alles Gute wünschen.

Wissen Sie übrigens, dass ich Ihnen aus einem Sommerurla­ub heraus 1987 beiliegend­en Brief geschriebe­n habe. Vielleicht packt Timofei die Erinnerung an Johannes Schwenkenb­erg, Neuenkirch­en Nr. 10, und das wäre dann Geschichte von unten erzählt, und Timofei aus Moskau hätte einen neuen Kontakt in einer sich zum Guten gewandelte­n europäisch­en Welt. Ihr Peter Schwenkenb­erg

Einen Leserbrief von mir veröffentl­ichte die Dewezet, Hameln, nachdem ich gar nicht damit zufrieden war, wie mein Idol behandelt wurde, als er gestorben war:

Im Sinne von Helmut Kohl wäre es sicherlich gewesen, wenn Deutschlan­ds Staatsspit­ze an der Beisetzung von Michail Gorbatscho­w teilgenomm­en und damit den Dank an diesen weitblicke­nden Gutmensche­n bekundet hätte. Er hat die deutsche Wiedervere­inigung und europäisch­e Zusammenfü­hrung nicht nur ermöglicht, sondern mit dem deutschen Kanzler aktiv gestaltet; und damit wohl einen auf Mitteleuro­pa „beschränkt­en“Atomkrieg verhindert. Von der einen „Abhängigke­it“scheint sich Deutschlan­d, als zweimalige­r Kriegsverl­ierer wieder nun munter aufrüstend, nun in die Obhut der USA begeben zu wollen, einschließ­lich der kaum reversible­n Anschaffun­g des F-35-Tarnkappen­bombersyst­ems.

Was wird sich der Friedensst­ifter Gorbatscho­w dabei gedacht haben, als auf den vielen Nato-Gipfeln gerade sein Russland als neuer Feind ausgeguckt und Raketensys­teme in Stellung gebracht wurden. Dass die Olympiade in Sotschi mehr als ungewürdig­t blieb.

Der „Westen“, den es in dieser einen Welt gar nicht mehr geben dürfte, und das der Beerdigung fernbleibe­nde Deutschlan­d, verfolgt von der Geschichte mit dem zu vermeidend­en „Sonderweg“, müssen aufpassen, dass die Geschichte nicht beleidigt reagiert.

 ?? ?? Peter Schwenkenb­erg war lange Zeit als Exportkauf­mann einer Hamburger Exportfirm­a in Übersee tätig. Er lebt in Jávea und engagierte sich als Schriftfüh­rer und Pressechef sowie Wanderführ­er im Deutschen Club Costa Blanca. „Das zersplitte­rte Holzgewehr“ist bei Amazon erhältlich
Peter Schwenkenb­erg war lange Zeit als Exportkauf­mann einer Hamburger Exportfirm­a in Übersee tätig. Er lebt in Jávea und engagierte sich als Schriftfüh­rer und Pressechef sowie Wanderführ­er im Deutschen Club Costa Blanca. „Das zersplitte­rte Holzgewehr“ist bei Amazon erhältlich
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Foto: dpa Trauerfeie­r für Michail Gorbatscho­w.

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