Latein lebt
Gruppen zur Latein-Konversation gibt es in ganz Spanien
Erst Grammatik und Wortschatz pauken, dann 2.000 Jahre alte Texte mit nicht enden wollenden Sätzen übersetzen – so haben viele Menschen den Lateinunterricht aus ihrer Schulzeit in Erinnerung. Doch die Zeiten haben sich geändert: Mittlerweile wird weltweit an vielen Schulen die totgeglaubte Sprache Latein auch gesprochen, so wie jede moderne Fremdsprache auch. Um sich darauf vorzubereiten, halten die Lehrer vielerorts – in Spanien in mehr als 15 Städten – regelmäßig Treffen zur Latein-Konversation ab. Die CSN war in Málaga bei einem Treffen der Lateinlehrer-Gruppe „Mane Latinum Malacinatum“(dt.: Lateinischer Morgen in Málaga) dabei.
„Paulatim tu poteris linguam latinam loqui“, sagt ein Mann zu einer Frau, und diese erwidert auf Spanisch, dass sie es sich nochmal überlegen werde. Wir sind bei einem der Treffen von „Mane Latinum Malacinatum“(dt.: Lateinischer Morgen in Málaga), einer Gruppe von Lehrern und Studenten, die einmal im Monat sonntags für zwei Stunden im Café con Libros auf der Plaza de la Merced in Málaga zusammenkommen, um gemeinsam ihr Latein zu verbessern. Und der Mann hat die Frau nicht etwa angeschnauzt, weil sie früher gehen wollte, sondern ihr lediglich gesagt, dass es gar nicht so schwer sei, Latein zu sprechen, wenn man es nur ein bisschen übt.
„Quis legit?“(dt.: Wer liest?), fragt der Mann von vorher, und eine andere Frau beginnt, aus dem Buch vorzulesen, das alle aufgeschlagen haben. Kaum ist der erste Satz zu Ende gelesen, geben die übrigen Mitglieder der Runde ihre Kommentare dazu ab. Alles auf Latein, wohlgemerkt. Ein Mann meint etwas mit „Pluralis“, womit er mit ziemlicher Sicherheit sagen will, dass es sich bei einem Wort um eine Pluralform handelt. Ansonsten ist das Ganze jedoch nur noch für solche zu verstehen, die auch nach der Schule noch in irgendeiner Form mit ihrem Latein weitergemacht haben.
„Wie eine moderne Sprache“
„Wir üben unser Latein genauso, wie man auch moderne Sprachen übt. Deklinieren und konjugieren kann man mit der Zeit intuitiv, wie das auch die Muttersprachler einer Sprache tun“, sagt die 23-jährige Alba Pozuelo, die noch studiert, aber schon als Aushilfedozentin an der Universität von Málaga Klassen in Latein gibt. „Manchmal arbeiten wir auch mit Bildern, Filmen und anderen didaktischen Ressourcen, um das ganze etwas aufzulockern“, meint die 55-jährige Gema Navarro aus Sevilla dazu, die als Lehrerin für Latein und Altgriechisch an einer Sekundarschule in Estepa arbeitet.
Das altbekannte Vorurteil, dass die lateinische Sprache heutzutage bestenfalls noch Ärzten und Apothekern etwas nützt, haben die Mitglieder der Runde schon tausendmal gehört. Erwartungsgemäß sind sie ganz anderer Ansicht. „Beim Lateinlernen lernen wir
auch, unsere Wurzeln und unsere eigene Kultur zu verstehen“, meint die 33-jährige Lourdes Delgado, die als Lateinlehrerin in Cabra in der Provinz Córdoba unterrichtet. „Der Lateinunterricht umfasst ja nicht nur die Sprache und Literatur, sondern es wird auch viel über die Geschichte Roms, die Mythologie der römischen und griechischen Antike und die Bräuche der damaligen Zeit gesprochen“, schickt Gema zur Erklärung nach.
Abkehr von der alten Methode
Aber die Sprache Roms auch noch zu sprechen? Im klassischen Lateinunterricht wurde das nie gemacht. Latein galt schließlich als die tote Sprache. Zuerst wurde Grammatik gepaukt, dann wurden die Klassiker übersetzt. Für das große Latinum musste man sich einst an deutschen Gymnasien neun Jahre lang herumplagen: zwei bis drei Jahre Deklinationen und Konjugationen auswendig lernen und danach sechs bis sieben Jahre die kompliziertesten Schachtelsätze entschlüsseln. Wer sich da am Anfang nicht ordentlich reingekniet hatte, blieb später bei Caesar, Cicero und Co schnell auf der Strecke.
„Latein zu sprechen, bedeutet das wahre Eintauchen in die Sprache“, meint der 42-jährige José María Castillo, der an einer Sekundarschule in Alhaurín el Grande Lateinunterricht gibt. „Dies hilft uns ungemein, uns als Lehrer zu verbessern und unseren Unterricht interessanter gestalten und somit auch die Schüler besser motivieren zu können.“
Scheu bald überwunden
Am Anfang hatten die meisten Scheu davor, die Sprache zu sprechen, die sie jahrelang nur übersetzt hatten. „Am Anfang dachte ich, ich könnte nicht mal ,Hallo’ auf Latein sagen“, erinnert sich die 33-jährige Ana Gámez, die in Álora Latein unterrichtet. „Ich war auch gehemmt. Ich glaubte, die anderen seien viel besser als ich“, pflichtet ihr Lourdes bei. Die anfängliche Scheu hat sich jedoch schnell gelegt, und bald sprachen die Mitglieder der Runde die Sprache Roms fast so, als ob es ihre eigene Sprache wäre. „Wir Spanier haben es auch etwas leichter als beispielsweise die Deutschen“, meint Gema. „Schließlich ist die spanische genauso wie die lateinische eine romanische Sprache.“
Kennengelernt haben sich die Gründer der Gruppe im Sommer 2016 auf einer Tagung in Madrid für Lateinlehrer namens Caelum (kurz für: Cursus Aestivus Latinitatis Vivae Matritensis; auf Deutsch: Sommerkurs für lebendiges Latein in Madrid). An dieser Tagung, die sich über eine ganze Woche hinzieht und jedes Jahr im August stattfindet, nehmen Lateinlehrer aus ganz Europa teil, um sich untereinander auszutauschen und sich über die neuesten Trends in der Didaktik der lateinischen Sprache zu informieren. Und da die Teilnehmer aus verschiedenen Ländern kommen, wird das Latein in dieser Woche auch als allgemeine Verständigungssprache genutzt.
„Ich kann mich noch an eine Geschichte erinnern“, sagt Ana. „Da war ein Deutscher, der hatte seine Schlüssel im Zimmer vergessen und konnte das dem Mann an der Rezeption nicht verständlich machen, da dieser weder Deutsch noch Englisch sprach. Da ließ ich mir die Geschichte von dem Deutschen auf Latein erklären, und ich habe dann auf Spanisch übersetzt.“
Revolution durch Ørberg
Bei ihren monatlichen Treffen wie auch beim Unterricht in ihren Schulen verwenden die bei dem Treffen Anwesenden fast ausschließlich Bücher von Hans Henning Ørberg. Der im Jahr 2010 verstorbene dänische Sprachwissenschaftler hatte seit Beginn der 50er Jahre den klassischen Lateinunterricht durch mehrere Bücher revolutioniert, die nicht in der Muttersprache der Schüler, sondern ausschließlich in lateinischer Sprache verfasst sind. Die Bücher sollen Schritt für Schritt zum Beherrschen der lateinischen Sprache führen, indem der Schwierigkeitsgrad stetig erhöht wird, ohne dass jedoch Grammatik und Wortschatz auswendig gelernt werden müssen.
„Das Ganze fängt einfach an“, sagt José María und zeigt einen Text, in dem nur die Verben „est“(dt.: ist) und „sunt“(dt.: sind) vorkommen. „Das versteht jeder“, meint er. „Selbst die Fälle der Substantive können mit diesen Büchern vermittelt werden, da es Illustrationen zu den Texten gibt. So kann man beispielsweise den Genitiv (den besitzanzeigenden Fall Red.) erklären, indem man einfach mit dem Finger von dem gezeichneten Männchen auf den entsprechenden Gegenstand deutet.“
Dass der berüchtigte ACI (Acusativus cum Infinitivum; dt.: Akkusativ mit Infinitiv) oder ein Endlos-Satz mit unzähligen Nebensätzen allein durch Fingerzeige verständlich gemacht werden kann, fällt schwer zu glauben. Mit diesem Einwand konfrontiert, müssen die Mitglieder der Runde lachen.
„Sobald die Schüler den zweiten Kurs des ,Bachillerato’ (In Deutschland entspricht dies dem Abiturjahrgang Red.) erreicht haben, müssen wir natürlich Grammatik auf die konventionelle Weise lehren, um die Leute auf die Universität vorzubereiten. Für die ersten Jahre ist die Methodik von Ørberg jedoch gut geeignet“, erklärt Ana. „Die meisten Schüler haben bei uns in Spanien auch nur wenige Jahre Latein“, meint José María. „Von neun Jahren Latein, wie es früher an den Gymnasien in Deutschland üblich war, können wir nur träumen.“