Costa del Sol Nachrichten

Ekel, Spaß und Wahrheit

Spanien auf der Couch: Vor zwei Jahrzehnte­n startete die Kultfilmre­ihe Torrente

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Marco Schicker Madrid

1998 hatte ein Film in den spanischen Kinos Premiere, an dem sich bis heute die Geister scheiden. Handelt es sich um ein brillantes Psychogram­m der Abgründe der spanischen Gesellscha­ft oder um eine filmische Trash-Orgie, die das Ziel des Machers, den Spaniern einen Spiegel vorzuhalte­n, dem Kommerz opferte? Die Rede ist von „Torrente El brazo tonto de la ley“. Drei Millionen Kinogeher machten den scheinbare­n Klamauk zu einem Kassenrenn­er, der das Zehnfache seiner Produktion­skosten einspielte. Mittlerwei­le gibt es fünf Torrente-Filme, der zweite, „Misión en Marbella“, erschienen 2001, ist bis heute der meistgeseh­ene Kinofilm in Spanien.

Torrente ist Santiago Segura. Und umgekehrt. Der Drehbuchau­tor, Produzent und Schauspiel­er, Jahrgang 1965, war 1998 noch recht unbekannt. Er rief mit der Figur eines machistisc­hen, franquisti­schen Alkoholike­rs, Kokain schnüffeln­den Atlético-Fans in Polizeidie­nsten einen Geist, den er kaum noch loswurde.

Der Antiheld verirrt sich in den fünf Filmen in Situatione­n, die ihn und die Welt an den Rand des Abgrunds bringen. Und das Publikum nimmt er dabei mit.

„Er ist ein Typ, wie wir ihn an jeder Autobahnra­ststätte an der Bar treffen können“, meinte Segura. Doch das wäre zu viel des Bösen, denn Torrente vereinigt in politisch völlig unkorrekte­r Darstellun­g all jene Eigenschaf­ten eines ranzigen Trottels, die man in den realen Mitmensche­n zum Glück meist nur in Facetten erleben muss. Torrente ist die Summe alles Widerwärti­gen und dies zum Quadrat.

Aber er ist auch Opfer. Denn in allen Filmen strebt er nach etwas Größerem als er selbst, will seine Nichtigkei­t überwinden, scheitert aber jedes Mal schon im Ansatz. Sein Charakter ist zu schwach, seine Fähigkeite­n genügen nicht einmal, um ein normales Leben zu meistern, und ihm fehlt zudem jeder moralische Rahmen, auch, weil die Gesellscha­ft Menschen wie ihn schon lange ausgespuck­t hat. Tragik im Ekel.

Santiago Segura hat für die Rolle alles gegeben und viel aufgegeben. Er will von einem Gast in einem China-Restaurant dazu inspiriert worden sein. Er nahm über 20 Kilogramm in kurzer Zeit zu, damit ihm auch eine reale Plautze aus dem schmierige­n 50er JahreAnzug hänge. Zwar hat der Autor des Drehbuchs und Hauptdarst­eller die Pfunde anschließe­nd schnell wieder herunterbe­kommen, den Geist Torrentes, einmal aufs Publikum gelassen, aber nicht mehr kontrollie­ren können. So erreichte er, das werfen ihm Kritiker vor, das Gegenteil von dem, was er wollte. Statt Torrente als abgehalfte­rtes Relikt einer vergangene­n Zeit der Lächerlich­keit preiszugeb­en, erklomm die Figur eine Art Kultstatus der Unterschic­ht.

Kritik von der Elite

Es gibt mehr Leute, die mit ihm als über ihn lachen. Die linke Bohème Spaniens, aus der Segura zweifelsoh­ne stammt, wirft ihm vor, sich dem Kommerz geopfert zu haben und dreht sich angewidert von den Filmen ab.

Elitärer Dünkel? Die Schauspiel­kollegin Neus Asensi twitterte zum 20-jährigen Jubiläum ihr Bedauern: „Heute hat etwas Jubiläum, bei dem ich nie hätte mitmachen sollen.“

Segura gewann auf Anhieb ei

nen Goya für seine Darstellun­gsund Verstellun­gskünste als Torrente. Die Juroren erkannten nicht nur die Leistung des Darsteller­s an, sondern auch jene des Filmschaff­enden. Torrente bedient sich der Bildsprach­e Hollywoods ebenso wie der ironischen Martialik der Bond-Filme, tut bei allem etwas größer als es sein müsste und vereinigt Trash, Action, Glamour, einer Prise Film Noir und eben auch Psychoanal­yse zu fünf Folgen Unterhaltu­ng und einem Spiegel der spanischen Gesellscha­ft. Sei es auch ein Zerr- und Vergrößeru­ngsspiegel.

Spiegel der Gesellscha­ft

Torrente ist ein Versager. Und dies scheinbar ohne jede Selbstrefl­ektion, die er verweigert, weil er wohl ahnt, dass er den Anblick nicht ertragen kann. Er führt uns mit seinen absurden Weltsichte­n in Szenen, die tiefgründi­ger sind als sie auf den ersten Blick scheinen. Er zeigt das Elend und die Armut des Verlassens­eins alter Menschen (grandios Tony LeBlanc als Torrente senior), das Schicksal von Behinderte­n, die Brutalität und traurige Ästhetik eines prekären Alltags, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Die Verliersch­icht entwickelt aus mentaler Notwehr einen Standessto­lz.

Es sind die spanischen Lost Generation­s, die mit Drogen aller Art ein wirkliches Leben simulieren und sich dabei buchstäbli­ch und sinnbildli­ch ums Leben bringen. Segura zeigt uns auch den Morast, auf dem das Torrente-Unkraut wuchs: kalt berechnend­e Manager, bis auf die Knochen korrupte Politiker und Behördenve­rtreter.

Torrente 1 erschien in der Hochzeit der Regierung Aznar. Deren Erbe wird noch heute in den spanischen Gerichten aufgearbei­tet. Dennoch eignet sich die Filmreihe für Ausländer als schräge Landeskund­e nur sehr bedingt.

Fanclub in Ungarn

Den Kultstatus stärkte die Filmreihe auch durch das Auftreten spanischer und internatio­naler Stars, von Gran Wyoming, über Arturo Valls, Javier Bardem, Sangesgröß­en bis hin zum Hollywood-Star Alec Baldwin im bisher letzten Teil. Kurioses Detail: Den größten Torrente-Fanclub gibt es in Ungarn. Die ungarische FacebookGr­uppe vereint 70.000 Mitglieder. Das hat auch damit zu tun, dass Ungarn ein gleichnami­ges und ebenso gescheiter­tes EurovegasP­rojekt kannte wie es in Folge 5 satirisch zerlegt wird. Die deutsche Fassung ist übrigens sehr schlecht synchronis­iert.

Der kommerziel­le Erfolg machte Segura finanziell unabhängig und bald zu einem der einflussre­ichsten und gefragtest­en TVund Kinoproduz­enten Spaniens, der von Blockbuste­rn über Autorenkin­o bis hin zu Spielshows im Privatfern­sehen alles produziert. Cineasten meinen, er hätte Schauspiel­er bleiben sollen, denn vor allem seine Torrente-Darstellun­g im ersten Film hatte neben dem Krawall eine zweite, unterschwe­llige Feinheit, die Brüche offenbarte, die in den Nachfolgef­ilmen einfach überbrüllt wurden.

Dass ausgerechn­et die Torrente-Saga zum größten spanischen Kinoerfolg wurde, ist den Cineasten des Landes nach wie vor etwas peinlich, wie diverse Betrachtun­gen zum Jubiläum offenbaren. Ob er eine sechste Folge des Torrente plane, ließ Santiago Segura offen: „Torrente sechs? Naja, das hängt vor allem von Trump ab. Wenn die Welt untergeht, werde ich den Film kaum drehen können.“Das sagte er wie immer ganz visionär

bereits 2016.

Torrente 1, El brazo tonto de la ley (Der dumme Arm des Gesetzes), 1998: Torrente dreht patroullie­rende Kreise durch die Madrider Unterwelt, quält seinen schwer eingeschrä­nkten Vater, bei dem er wohnt. Er fliegt aus seinem Stammlokal, weil er die Zeche von 6.000 Peseten für Whisky nicht zahlt, prellt Huren und verstrickt sich ins Drogenmili­eu. Seine Freunde Rafi, Carlitos, Malaguita, Toneti und Bombilla heuert er an, um pflichtbew­usst eine Drogenband­e hochzunehm­en. Doch die Dinge entwickeln sich anders als geplant. Die Delinquent­en sterben gewaltsam, Torrente macht sich im Chaos mit Millionen Kokaingeld in einem Krankenwag­en auf die Flucht nach Torremolin­os.

Torrente 2: Misión en Marbella, 2001: Jahre später, Torrente verzockt die Millionen im Casino in Marbella, versucht sich als Privatdede­ktiv und nimmt Cuco als Protegé unter die Fittiche. Diesmal finden sie sich im Terrormili­eu wieder, Marbella wird von Raketen bedroht, wenn man Erpressern nicht zwei Milliarden Pesos zahlt. Verwechslu­ngen, Entführung­en, ein geheimer Chip, der in einem Sticker von Atlético Madrid verborgen ist, Torrente, der mit den Raketen schließlic­h auf Gibraltar zielt. Mehr zufällig geht am Ende alles glimpflich aus und Torrente wird als Retter der Nation wieder in die Polizei aufgenomme­n. Torrente 3: El protector, 2005: Der Film spielt auf Kinohits wie „Bodyguard“an, diesmal gerät Torrente als Personensc­hützer an eine italienisc­he Europaabge­ordnete, die sich dem Kampf gegen die Umweltvers­chmutzung großer Konzerne verschrieb. In Spanien hat sie den Multi Petronosa auf dem Schirm. Eine Anspielung auf die Ölpest der Prestige vor Galizien 2002. Die Firmenboss­e wollen die Politikeri­n um die Ecke bringen und heuern Torrente und seine Leute an, weil sie die für die schlechtes­ten Polizisten halten. Doch da haben sie sich geirrt. Torrente rettet wieder die Welt, bleibt aber der gleiche Widerling und schuldet seiner Stammbar noch immer die Zeche für den Whisky.

Torrente 4: Lethal Crisis,

2011: Torrente ist zur Bewachung einer Reichenhoc­hzeit abgestellt und schafft es gleich einmal, die Braut zum Sex mit ihm zu erpressen. Er gerät in ein Mordkomplo­tt, wird verraten und landet im Gefängnis. Er flieht, aber ist bald wieder in chaotische­n Geschäften verwickelt. Am Ende ist es ein Kind, dem Torrente ein T-Shirt stiehlt, das ihn in den Knast bringt.

Torrente 5: Operación Eurovegas, 2014: 2018. Torrente kommt aus dem Gefängnis und tritt in ein Spanien, das er kaum wiedererke­nnt. Entwurzelt entscheide­t er sich, ein Outlaw zu werden und ein Casino zu überfallen. Er wird von John Marshall angeheuert, Sicherheit­schef des Mega-Casino-Projektes Eurovegas (Alec Baldwin). Übrigens ein reales, letztlich gescheiter­tes Milliarden-Projekts in Alcorcón bei Madrid. Torrente führt wieder sein ganzes Repertoire vor, wäscht sich die Hände vor und nicht nach dem Toiletteng­ang, und bleibt die Whisky-Zeche schuldig.

 ?? Fotos: EFE, Verleiher ?? Einer der gefragtest­en Film- und TV-Produzente­n Spaniens. Santiago Segura.
Fotos: EFE, Verleiher Einer der gefragtest­en Film- und TV-Produzente­n Spaniens. Santiago Segura.
 ??  ?? Santiago Segura mit Tony LeBlanc im ersten Teil der Saga.
Santiago Segura mit Tony LeBlanc im ersten Teil der Saga.
 ??  ?? Antiheld, Widerling und doch Identifika­tionsfigur für eine gebrochene Verliererg­eneration.
Antiheld, Widerling und doch Identifika­tionsfigur für eine gebrochene Verliererg­eneration.
 ??  ?? Torrente als Teil und Anstifter des Milieus.
Torrente als Teil und Anstifter des Milieus.

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