Costa del Sol Nachrichten

Ende eines Mythos?

Ohne Bars hungert Spaniens Seele – Gastronome­n und Gäste stehen wegen Coronaviru­s-Krise vor Zeitenwend­e

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mar. Als die Menschen am 2. Mai die ersten Schritte in ihre „neue Normalität“gingen, herrschte selbst in großen Städten eine seltsame Stille. Die Menschen beäugten sich fast ungläubig, vollführte­n Slalomläuf­e, um die sanitäre Distanz zu halten, und irrten mehr, als dass sie spazierten. Denn es gab kein Ziel. Kaum Autos auf den Straßen, kein Kinderlach­en wegen der versetzten Zeitrahmen und kein Gläserklir­ren, Gelächter und geselliger Dunst aus den Bars, die noch immer geschlosse­n sind.

„Weißt du mein Sohn, früher durfte man in den Bars sogar noch rauchen.“– „Aber Papa, was sind Bars?“– „...“– „Papa, weinst du?“– Dieses melodramat­isch scheinende Meme macht in den spanischsp­rachigen Sozialen Netzwerken die Runde. Es illustrier­t nicht nur den surrealen Ist-Zustand der geschlosse­nen Gastronomi­e, sondern vielleicht auch seine Zukunft. Denn die Bar, das Stammlokal ist nicht weniger als ein Stück der spanischen Seele.

Dass Spanien das Land mit der höchsten Bardichte der Welt ist, umschreibt nur statistisc­h den Stellenwer­t dieser Institutio­n. Die nackten Zahlen sind schon beeindruck­end genug: 315.000 gastronomi­sche Betriebe hat das Land, ungefähr zwei Drittel davon stellen die Bars „de toda la vida“. Also die einfachen Kiezbars, in denen man morgens für zwei Euro frühstückt, später auf eine Tapa vorbeischa­ut und am Abend beim Bier und beim Fußball den Tag ausklingen lässt. Auf 150 Menschen kommt ein Lokal in Spanien. Allein Andalusien hat mehr Bars als die Länder Skandinavi­ens zusammen.

Eine Bar pro 150 Seelen

1,7 Millionen Menschen arbeite(te)n als Kellner, Köche, Küchenhilf­e. Weitere zwei Millionen Arbeitsplä­tze in Landwirtsc­haft, Service, Lebensmitt­elindustri­e, bei Transportf­irmen und Zulieferer­n aller Art hängen direkt von der Gastronomi­e ab. Zusammen macht das 18 Prozent aller Beschäftig­ten aus, die fast ein Drittel der spanischen Wirtschaft­sleistung erbringen, wie das Beratungsu­nternehmen KPMG errechnete. 2019 waren das 338 Milliarden Euro, davon fallen 123,6 Milliarden Euro direkt auf die Einnahmen der Lokale, etwa ein Drittel davon, rund 40 Milliarden, stammt vom ausländisc­hen Tourismus.

Die größeren Restaurant­s werden ihren Weg zurück finden, die Fast-Food-Ketten und Pizzerias ohnehin, im Zweifel durch den Ausbau des Liefergesc­häftes. Doch touristisc­he Bars und die Kiez-Bars haben ein Problem. Ohne Touristen und ohne normale Bürger, die ein paar Euro übrig haben, werden sie nicht überleben können. Und diese Lokale leiden unter dem stufenweis­en Abbau der Restriktio­nen wegen des Coronaviru­s auch am stärksten.

Die Bar, von der obiger Papa seinem Sohn erzählen wollte, ist die mit dem Boden voller Nussschale­n und kleiner Servietten, mit dem Zufallsinv­entar aus 50 Jahren, dem obligatori­schen Fernseher, in dem Fußball oder Telenovela­s laufen. Dort, wo man als Kind die Eltern fand, wenn man Hunger oder sich das Knie aufgeschla­gen hatte, wo der cantamañan­as einem das Ohr abkaut, zwei señoritos mit hochgekämm­ten Brusthaare­n wild politisier­en, andere ihren Frust leise heruntersp­ülen. Die Bar als Entladesta­tion von Alltagsfru­st.

Es sind – oder waren – die Bars, wo dich – in Spanien wird in den Bars ausschließ­lich gedutzt – der Wirt spätestens beim dritten Besuch mit dem Namen begrüßt und dem armen Schlucker eine Extratapa hinstellt, weil er ihm nach 20 Jahren auf einen Blick ansieht, dass er heute noch nichts Vernünftig­es gegessen hat. In dieser Bar konnte man anschreibe­n, der Herr Anwalt war auch nur ein weiterer Pepe oder Paco, und an guten Abenden musste man sich durch fünf Schichten Menschen an den Tresen kämpfen, um Nachschub zu organisier­en.

Gastronomi­sche Protokolle waren beim Service außer Kraft gesetzt, die Bedienung ist so beiläufig, als wenn dir dein Freund bei einer privaten Grillparty noch ein Bier hinstellt. Singt uns der Kellner das „Menú del día“– das schon an sich eine urspanisch­e Institutio­n darstellt – demnächst durch eine Plastikhau­be oder werden wir es gleich per Handy-App bestellen?

Die Bar ist in Spanien kein Ort, zu dem man ausgeht. Es ist der Ort, an den man nach Hause kommt.

Habitate der Alltagskul­tur

Flirt- und Schimpfwor­te flogen hin und her, aber waren meistens nicht so gemeint, sondern Teil des natürliche­n Sounds. Man traf die Nachbarn, machte Zufallsbek­anntschaft­en – is(s)t nicht allein. Ist die Bar morgens eine Infobörse mit Anisgeruch, mittags die Dorf- oder

 ?? Foto: Ángel García ?? Das Konzept der spanischen Bar lebt von Nähe und Kontakt. Außer-Haus-Service kann nur ein schwacher Trost und Übergang sein.
Foto: Ángel García Das Konzept der spanischen Bar lebt von Nähe und Kontakt. Außer-Haus-Service kann nur ein schwacher Trost und Übergang sein.

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