Warum so aggressiv? Forscher rätseln über OrcaAngriffe auf Boote
Schwertwal-Angriffe auf Boote vor spanischer Küste geben Meeresbiologen Rätsel auf
Madrid – dpa. Die Fassungslosigkeit stand dem Haudegen mit dem weißen Vollbart im Gesicht geschrieben. „So etwas hatte ich noch nie gesehen, und dabei bin ich schon seit 40 Jahren Seemann“, erzählt Cándido Couselo Sánchez im Video. Der Korvettenkapitän war am Steuer der „Mirfak“, als der Marinesegler vor gut einem Monat zwei Seemeilen vor der Küste der Region Galicien von Schwertwalen attackiert wurde. Der Angriff wurde auf Video festgehalten. Man hört die Schreie der verblüfften Seeleute: „Da, die sind dageblieben und fressen unser Ruder! Sie fressen unser Ruder!“
Die zehn Meter langen und bis zu sechs Tonnen schweren Orcas attackieren zwar andere Meeresgiganten – auf Menschen oder Schiffe hatten sie es bisher aber nicht abgesehen. Vor dem Angriff auf die „Mirfak“hatte es im Juli und August bereits sechs Attacken an der Straße von Gibraltar, vier vor der Küste Portugals und dann auch eine vor der Küste Galiciens gegeben. Dann kam es im September vor der Nordwestküste zu mindestens 15 weiteren Zwischenfällen. Die Sequenz macht Sinn: Orcas ziehen von der Küste Andalusiens durch portugiesische Gewässer hinauf zum Biskaya-Golf – den Thunfischen hinterher.
Das Verkehrsministerium verhängte in den betroffenen Gewässern ein Segelverbot für Boote und Schiffe mit einer Länge von weniger als 15 Metern. Nach neuen Attacken wurde die Verbotszone ausgeweitet. Diese Maßnahme diene „dem Schutz der Menschen und auch der Orcas“, hieß es dazu. Tierschützer und Behörden befürchten, dass es zu Gegenangriffen von Bootscrews kommt.
Das untypische Verhalten gibt Wissenschaftlern derweil Rätsel auf, da Orcas als gesellige und verspielte Tiere gelten. Wieso plötzlich Schiffe so hart gerammt werden, bis sie nicht mehr manövrierfähig sind – dafür haben Experten keine Erklärung. „Wir wurden mindestens 15 Mal gerammt, unser Boot hat sich mehrfach gedreht“, erzählte Justin Crowther, Kapitän der „Beautiful Dreamer“.
„Die einzige klare Antwort, die wir geben können, ist, dass wir keinen blassen Schimmer haben, was da gerade vor sich geht“, räumte Juan Antonio Romero von der Stiftung Fundación Oceanográfic ein. Der Meeresbiologe meint, es habe praktisch nie Angriffe von Orcas auf Menschen gegeben. Elvira García vom spanischen Ministerium für den Ökologischen Übergang sprach von „sehr ungewöhnlichen“Zwischenfällen.
Fachmann Víctor Hernández wähnt die Orcas indes auf einer Art „Rachefeldzug“. Eine von Orcabulle „Pingu“angeführte Gruppe von bis zu 13 Tieren attackiere Schiffe, weil sie Vergeltung für einen Angriff im Juli an der Straße von Gibraltar übe, bei dem zwei Weibchen durch Harpunenschüsse verletzt worden seien. „Fischer und die Besatzung von Walbeobachtungsschiffen, die die Tiere sehr gut kennen, haben die verletzten Orcas gesehen und mir davon erzählt“, sagte der Forscher. Man müsse nun „jede Panikmache verhindern“, die Orcas als gefährliche Tiere hinstelle. Die Gruppe um „Pingu“werde die Angriffe mit den Harpunen vergessen und sich wieder „normal“verhalten.
Die auf Meeressäuger spezialisierte Biologin María del Carmen Rodríguez bringt das ungewöhnliche Verhalten der Tiere mit der Corona-Pandemie in Zusammenhang. „Die Tiere hatten sich vielleicht an die Ruhe gewöhnt, die der monatelange Lockdown gebracht hatte. Als es wegen des wieder zunehmenden Schiffsverkehrs wieder deutlicher lauter wurde, hat der Lärm die Tiere vielleicht aufgebracht. Das könnte die Erklärung für diese ungewöhnliche Aggressivität sein, denn das Verhalten der vergangenen Wochen ist sehr rätselhaft.“
„Wir haben keinen blassen Schimmer, was da gerade vor sich geht“