Vögel, Süßes, heiße Waden
Jimena de la Frontera begrüßt mit einer historischen Burg, steilen Steigungen und zahlreichen, idyllischen Wanderrouten
Oben angekommen, lässt sich Ray Facer erst einmal im Schatten eines Felsvorsprunges nieder. Seine Frau Ann gesellt sich zu ihm, klappt die Rucksackschnalle auf, holt die halbvolle Trinkflasche heraus, nimmt daraus einen tiefen Schluck und hält sie ihrem Mann hin. „Sehr steil“, bringt Ray keuchend hervor, bevor er seinen arg strapazierten Wasserhaushalt wieder auffüllt. Aber für diesen Ausblick, sagt der Brite, lohne sich jeder einzelne der vielen mühsamen Schritte.
Am höchsten Punkt von Jimena de la Frontera thront das Castillo, das schon von Weitem erkennbar ist und den Stolz der kleinen Gemeinde bildet. Am östlichen Rand der Provinz Cádiz gelegen, wurde die Festung im 8. Jahrhundert von den Arabern als Wachposten auf den Ruinen eines römischen Vorgängerbaus errichtet. Nach blutigem Tauziehen im 15. Jahrhundert konnte die Burg 1456 von Enrique IV (Heinrich IV.) letztlich eingenommen werden. Mit der Rückeroberung der Festungsanlage begann gleichzeitig der Aufschwung von Jimena de la Frontera. Die Bevölkerung wuchs rasch an, die Landwirtschaft trug zum steigenden Reichtum bei, zudem zogen dort stationierte Soldaten zum finalen Feldzug gegen die Besatzer los und unterstützten unter Einsatz ihres Lebens die Eroberung der letzten arabischen Bastion in Granada, die 1492 fiel. Von diesen damals unruhigen und gewaltsamen Zeiten ist die Stadt ein halbes Jahrtausend später weit entfernt. Die 10.000 Einwohner genießen die Stille im Landesinneren und lieben ihr kleines, gemütliches Provinznest. „Jimena ist ein sehr friedlicher und ruhiger Ort“, meint Lola Ortíz, die sich, wann immer es ihr möglich ist, dem Trubel in Córdoba zu entfliehen und in ihrem Heimatort Seelenfrieden und familiäre Geborgenheit zu finden. „Man kennt sich untereinander gut“, sagt die 20-Jährige. „Deshalb herrscht hier auch so eine tolle Stimmung.“Das Einzige, was Lola zu kritisieren hat, sind die Steigungen: „Viel zu steil!“
Süßes gegen Wadenbrennen
Der Weg vom Ortszentrum zum Castillo ist nichts für schwache Beine. Kurz aber knackig schlängeln sich die Straßen und Gässchen den Hang hinauf. Die Sonnenstrahlen brennen im Nacken, die angestrengten Muskelfasern in den Waden. Das Gute am mühsamen Aufstieg ist, dass das langsame Gehen (oder Kriechen) genug Zeit gibt, um die vielen reich verzierten Häuserfassaden zu bestaunen oder sich auf eine Spezialität des Städtchens in einem Café einladen zu lassen: Piñonates.
Das Süßgebäck besteht hauptsächlich aus Mehl, Eiern und Wasser. Dazu mischt der Bäckermeister je nach Variation Mandeln, Pinienkerne, Sesam, Zimt, Nelken, Anis, Orangenschalen und einen ordentlichen Schuss Schnaps, bevor er den Teig bei mittlerer Hitze backt. Was ein bisschen nach Weihnachten klingt, schmeckt auch genau so. Während drinnen im Geiste die Schneeflocken von der Tavernendecke rieseln und ein Flamencogitarrist „Stille Nacht, heilige Nacht“zum Besten gibt, flimmert draußen die unsägliche Hitze über den Asphalt. Gut, dass in Jimena immer ein leichtes, laues Lüftchen weht, das den Schweißausstoß um mindestens fünfzig Prozent reduziert und deshalb den Marsch zum Castillo erleichtert.
Indianer und Höhlenmalerei
Wer die letzten Meter des Anstieges bewältigt hat, wird sich fragen, weshalb er nicht mit dem Auto auf den unterhalb der Burg liegenden Parkplatz gefahren ist, sich gleichzeitig aber noch mehr über das traumhafte Panorama freuen, das man von oben hat.
Dabei ist der Blick hinunter auf die Stadt gar nicht mal das Spannendste daran. Noch fantastischer sind die Eindrücke, die die umgebenen Gebirgszüge, angrenzenden Wälder und Flüsse geben.
Die Ausläufer der Berglandschaft Rondas, die Sierra del Aljibe, die Sierra de Cortes de la Frontera und der sich durch das Tal windende Fluss Río Hozgarganta prägen die Umgebung, in der auch der ein oder andere Winnetoustreifen problemlos hätte gedreht werden können. Vergebens werden Indianerschmuck und Friedenspfeifen gesucht, dafür aber Höhlenmalereien gefunden. In der Fundstätte „Laja Alta“(Hohe Steinplatte) zeugen Zeichnungen vom Leben in der Bronzezeit, was es nirgendwo sonst in Spanien in dieser Form zu sehen gibt. Für Wanderliebhaber ist die andalusische Gemeinde ein Paradies. Unterhalb der Burg beginnt „El Risco“(Der steile Felsen). Der Wanderweg führt am Rande des Naturparkes „Los Alcornocales“(Die Korkeichenwälder) durch einen botanischen Garten, in dem sich viele, teils besondere Pflanzen bestaunen lassen können. Hinweisschilder vereinfachen das Entdecken der pflanzlichen Vielfalt und erweitern zudem den Wissenshorizont des Besuchers. Über Stock und Stein gehen die Passagen des neun Hektar großen Wanderterrains. Feste Schuhe und genügend Proviant sollten unbedingt eingepackt werden und ein großer Batzen an Geduld. Denn nicht selten kommt es vor, dass Wege nach zwanzig Metern im dichten Gestrüpp enden und den Wanderer zwingen, an der vorherigen Kreuzung doch eine andere Richtung einzuschlagen.
Wer mit den Nerven oder Kräften am Ende ist, kann sich an den zahlreichen Aussichtspunkten ausruhen oder sich ein schattiges Plätzchen auf einer Bank unter Lorbeer- oder Eukalyptusbäumen suchen. Vorteilhaft an der Gegend ist, dass ein Großteil der Pfade im Schatten liegt, was zu einer angenehmen Wandertemperatur führt. „Diese Gegend ist wundervoll“, schwärmt Ann Facer. „Die Routen tun Herz und Seele gut.“
Ferngläser fürs Vögelkunde
Für Ray und Ann Facer liegt der große Reiz der Stadt aber nicht nur in den vielen Wandermöglichkeiten. Seit 13 Jahren kommt das Paar aus Hertfordshire für vier Wochen nach Jimena, um ihrem Hobby, dem Beobachten von Vögeln, nachzugehen. Zahlreiche, seltene Arten habe er in den letzten Jahren schon entdecken können, schwärmt Ray, während er mit einem Blick in sein Fernglas in die Ferne schweift. „Wer einen ruhigen Ort besuchen möchte, in dem er in vollen Zügen die Natur genießen kann“, sagt Ray, „muss unbedingt nach Jimena de la Frontera kommen.“Dann packt er sein Fernglas und die Trinkflasche ein, nimmt seine Frau an die Hand und wandert los.
Im Paradies lassen sich besondere und seltene Pflanzen bestaunen