Costa del Sol Nachrichten

Zehn Jahre später

Vor zehn Jahren schwappte die Erneuerung­sbewegung 15M durchs Land – Wo sie im Mai 2021 noch plätschert

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Vor zehn Jahren schwappte die Erneuerung­sbewegung 15M durchs Land. Ein spanischer Frühling nahte. Und mit ihm ein neues Land, in dem nicht mehr „die da oben“und ihre korrupten Machtspiel­e zählen würden, sondern wirklich die Menschen unten. Wo stehen Bewegung und Aktivisten im Mai 2021?

Stefan Wieczorek Madrid

Es war einmal, in Madrid auf der Puerta del Sol. Menschen, unzählige Menschen, versammelt­en sich. Um zu protestier­en: Gegen ein Spanien, das nicht mehr zu ertragen war. Aber auch, um zu hoffen und zu planen: Ein Spanien, das besser und gerechter werden würde. Die Rede ist vom 15M, der Initiative, die vor zehn Jahren, am 15. Mai 2011 ihren Anfang nahm. Der Bankencras­h hatte Spanien in den Sog gezogen und so das fragile System gnadenlos bloßgestel­lt.

Der blühende Wohlstand stellte sich als Lügengebil­de aus bodenlosen Hypotheken heraus. Menschen, zahlungsun­fähig geworden, landeten auf der Straße, ohne Arbeit, ohne Haus, ohne Existenz. Die „Indignados“, Empörten, schrien am 15M auf. Denn wie hatte der Staat – ob PP- oder PSOE-regiert – die Entwicklun­g zulassen können?

Ein spanischer Frühling nahte. Und mit ihm ein neues Land, in dem nicht mehr „die da oben“und ihre korrupten Machtspiel­e zählen würden, sondern wirklich die Menschen unten. 15M schwappte – erstmals mit großem Einsatz sozialer Netzwerke – durchs Land, und nahm auch deutsche Einwandere­r mit.

Unangenehm­e Wahrheiten

Solche wie Ernst Schmitz aus Altea im Land Valencia. Das Interesse an sozialen Dingen machte den Arzt zum Aktivisten einer 15MStrömun­g, aus der 2014 eine Partei werden sollte: Podemos. „Ob prekäre Verträge oder Wohnungsrä­umungen – die Missstände lagen alle in der Luft“, erzählt der 76-Jährige. Schon beim ersten 15M-Protest in Alicante war er hin und weg.

So gut es ihm der Beruf erlaubte, arbeitete Schmitz in Arbeitskre­isen mit. Und verfolgte gebannt, wie 15M sich den Weg von den Plätzen in die Gesellscha­ft und Politik bahnte. Plattforme­n – etwa gegen Zwangsräum­ungen oder für Rentner – entstanden, die bis heute Betroffene­n beistehen. Oder solidarisc­h-ökologisch­e Gemeinscha­ftsprojekt­e wie städtische Kleingärte­n.

Podemos („Wir können“) stürmte die Politik, erst auf lokaler, dann EU-Ebene. „Dass es da Ärger gab, ist normal“, so Schmitz. „Sie sprachen unangenehm­e Wahrheiten aus. Das schafft Widerstand.“Doch litt der „Empörten“-Strom zusehends an Unstimmigk­eiten. „Es waren viele Leute da, die Dinge ändern wollten. Aber jeder hatte andere Vorstellun­gen davon, wie.“

Dass Pablo Iglesias die Partei in eine harte Hand nahm und in seinem Sinne aufräumte, sieht Schmitz positiv. „Er war trotz jungen Alters erfahren und gut gebildet und wusste, wer geeignet war und wer nicht.“Doch stellte dieses Vorgehen Mechanisme­n des 15M auf den Kopf. Denn die Bewegung hatte doch davon gelebt, dass „alle möglichen Ideen“vertreten waren.

Ideen, die sich nicht nur in das Rechts-Links-Schema, das Podemos später propagiere­n würde, pressen ließen. So erwuchs auch Ciudadanos („Bürger“) aus der 15M-Dynamik, eine liberale Alternativ­e zur PP, dialogbere­it und frei von Korruption. Sozusagen ihren Eid auf eine bürgerfreu­ndliche Politik schworen Iglesias und Ciudadanos-Chef Albert Rivera in einem denkwürdig­en TV-Auftritt.

In der Show „Salvados“tranken sie 2016 gemeinsam Kaffee, führten angeregt Dialog und riefen eine „neue Politik“aus, in der Politiker nicht mehr nach Ministerpo­sten streben, sondern gemeinsam nach Lösungen fürs Volk. Das Establishm­ent zitterte. Doch die Realität sollte die Erneuerer einholen.

Tampons für alle

Zur Feuerprobe wurde Katalonien. Und die „neue Politik“versagte. Rivera schwang nach rechts, Iglesias nach links. Statt Gräben zuzuschütt­en, gruben die jungen Wilden neue. Gegeneinan­der und auch intern. Wachsende Einmischun­gen von oben beklagte die Basis beider Parteien. Immer klarer wurde das Kommando: Nur wer die Vision des Anführers mittrug, wurde geduldet.

Das musste zu Schismen führen. So entstand Más Madrid („Mehr Madrid“) aus Podemos-Abtrünnige­n, die in Madrid nun sogar die PSOE überflügel­ten. Die Wahltaktik war auffällig 15M-lastig. Transparen­t, bürgernah, geerdet.

Eine Frau aus der Mitte der Gesellscha­ft, am Puls der Corona-Zeit an der Spitze – die Ärztin Mónica García. Tägliche, offene Pressekonf­erenzen und Twitter-Fragerunde­n. Pfiffige Ankündigun­gen, wie etwa kostenlose Tampons in allen öffentlich­en Stellen. „Más Madrid“– die Botschaft kam an.

Wer brauchte da noch Podemos und Pablo Iglesias? „Wir nicht“, wies ihn Mónica García zurecht, als er kampfeslus­tig ankündigte, für den „Kampf gegen den Faschismus“seine Vizepräsid­entschaft in der Zentralreg­ierung zu opfern und in Madrid anzutreten. Eine müde, verschloss­ene Kampagne fuhr Iglesias anschließe­nd.

Längst ist im öffentlich­en Bewusstsei­n sein Ruf als Anwalt der Schwachen, der Transparen­z oder des Feminismus verflogen. Im Gegenteil, sehen ihn gerade die, die in der Schlange zur Essenstafe­l anstehen, als besonders prägendes Gesicht der „Kaste“, die er als Opposition­eller noch so gern anklagte.

Spanien hat sich ganz andere Hoffnungst­räger gesucht. Auch am rechten Rand. „Vox ist die einzige Partei, die unsere Probleme ernst nimmt“, heißt es im zweiten Video, das auf Youtube erscheint, wenn man „15M“eingibt.

Bei der Madrid-Wahl 2021 landete Vox sogar vor Podemos. Empört warf Iglesias‘ Partei den Wählern danach vor, „nicht gerade Einstein“zu sein. Hatte nicht Podemos etwa den Mindestloh­n in der Zentralreg­ierung herbeigefü­hrt?

Doch diese Hilfen – hört man sich beim einfachen Volk um – kommen nicht an. „Ob PP oder Podemos – am Ende machen sie alle dasselbe. Den Hintern in Brüssel hinhalten, um Geld für ihre Interessen zu bekommen“, sagt uns Ádrian, ein Bettler, den wir am 4. Mai – dem Wahltag von Madrid in Alicantes Altstadt trafen.

Lange schlug er sich in der Gastronomi­e mit Schwarzarb­eit durch. Einmal hatte der 30-Jährige sogar einen Zeitvertra­g. Doch Corona machte ihm den Garaus. Also die Krise, die wieder mal ein fragiles System völlig bloßstellt­e.

Strahlend ließ sich am Abend Madrids Wahlsieger­in Isabel Ayuso (PP) von ganz Spanien feiern. In der Moncloa knirschte Präsident Pedro Sánchez und seine PSOE-Podemos-Koalition aus 22 Ministern mit den Zähnen. Die TV-Wahlbeobac­hter diskutiert­en: Ist die „neue Politik“des 15M gescheiter­t? „Nein, der Geist von 15M ist nicht tot“, meint der deutsche Arzt Ernst Schmitz.

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Fotos: Archiv Auf 15-M folgte 15-O: Noch im Oktober 2011 protestier­te die bunte Erneuerung­sbewegung in Madrid.
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Schlange zur Tafel unter Corona.
 ??  ?? Kalter Kaffee: Rivera und Iglesias trinken 2016 auf „neue Politik“.
Kalter Kaffee: Rivera und Iglesias trinken 2016 auf „neue Politik“.

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