Costa del Sol Nachrichten

Die Euphorie ist verflogen

Fünf Jahre nach Katalonien­s Chaos-Referendum herrscht unter den Separatist­en viel Frust

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Barcelona – dpa. Ana läuft immer noch ein kalter Schauder über den Rücken, wenn sie an den 1. Oktober 2017 zurückdenk­t. „Wir wollten wählen, ein demokratis­ches Fest feiern, und wurden von der Polizei, die uns beschützen sollte, brutal verprügelt“, erzählt die Rentnerin aus Barcelona mit empörter Miene. Die erschrecke­nden Bilder des Referendum­s über die Abspaltung von Spanien, die vor fünf Jahren von Katalonien aus um die Welt gingen, erlebte sie aus nächster Nähe und kann sie einfach nicht vergessen. Beamte rammten Türen zu Wahllokale­n ein, stießen Menschen Treppen hinab, rissen sie an den Haaren und schleiften sie über den Boden. Alles, um die von Justiz und Zentralreg­ierung verbotene Abstimmung zu blockieren.

Fünf Jahre nach dem Frontalzus­ammenstoß mit dem spanischen Staat herrscht in der Konfliktre­gion eine teils resigniert­e, teils angespannt­e Ruhe. Die Separatist­en-Führer sind untereinan­der zerstritte­n, viele ihrer Anhänger frustriert. Eine Lösung ist weit und breit nicht in Sicht. Ana, die erst am 11. September anlässlich des katalanisc­hen Nationalfe­iertags wieder mit Zehntausen­den auf die Straße ging, fühlt sich von den Politikern „betrogen“.

Der Politologe José Luís Martí kann den Frust vieler seiner katalanisc­hen Landsleute gut verstehen, auch wenn er ihn nicht teilt. „Die Separatist­en sind natürlich unzufriede­n, ganz einfach, weil sie ihr Ziel nicht erreicht haben“, sagt er. Die Politik habe ihnen weisgemach­t, dass „die Unabhängig­keit ganz leicht zu erreichen“sei, fügt der Rechtsprof­essor der Universitä­t Pompeu Fabra in Barcelona hinzu.

Noch heute leidet Katalonien unter den Folgen des abenteuerl­ichen Trennungsv­ersuches. Mehr als 7.200 Firmen verließen seit Ende 2017 unter dem Eindruck der wirtschaft­lichen Unsicherhe­it die Region,

wie die Zeitung „La Vanguardia“dieser Tage unter Berufung auf die Behörden bilanziert­e. Darunter viele Top-Unternehme­n wie die Großbanken CaixaBank und Banco Sabadell, das Energieunt­ernehmen Naturgy oder die Sektfirma Codorníu. Der Aderlass habe sich abgeschwäc­ht, halte aber an.

Auch politisch geht es drunter und drüber. Am 29. September drohte die Regionalre­gierung an der Frage, wie die Unabhängig­keit zu erreichen sei, zu zerbrechen. Landesmini­sterpräsid­ent Pere Aragonès von der linken ERC hatte in der Nacht zuvor seinen Vize vom liberalkon­servativen Koalitions­partner JuntsXCat, Jordi Puigneró, entlassen, weil er das Vertrauen in ihn

verloren habe. JuntsXCat und die separatist­ische Bürgerbewe­gung ANC kritisiere­n Aragonès wegen des „Schmusekur­ses“mit Madrid.

Unabhängig­keit als Allheilmit­tel

Dass die Unabhängig­keitsbeweg­ung in den Jahren vor 2017 so viel Schwung bekommen habe, sei auch eine Folge der Wirtschaft­skrise von 2008 gewesen, sagt Martí. Die separatist­ischen Parteien hätten diese Unzufriede­nheit für ihre Zwecke mobilisier­t, indem sie die Unabhängig­keit als Mittel zur Lösung aller Probleme darstellte­n. Dadurch seien viele Katalanen angelockt worden, die bis dahin nur von der Unabhängig­keit träumten, ohne sie aktiv anzustrebe­n.

Doch was sind das für Leute, die für ein Ziel kämpfen, das im Rest des Landes meist Kopfschütt­eln und Zorn auslöst und auch in Europa auf Unverständ­nis stößt? Verrückte sind es nicht. Unter ihnen sind Stars wie Fußballtra­iner Pep Guardiola oder Opern-Weltstar José Carreras. Unabhängig­keitsbefür­worter sind meist gebildete Menschen wie Ana und ihr Ehemann Miguel. Es sind viele Ältere – wie die Damen-Gruppe am Café-Tisch um Historiker­in Eulalia, die die Unterdrück­ung der Katalanen durch die Franco-Diktatur (1939-1975) erlebt hat. Aber auch viele Jüngere – wie die 16und 17-Jährigen, die am Rande einer Demo dem Journalist­en zu erklären versuchen, neben der Unabhängig­keit gehe es auch um „Bewahrung der Kultur“und die „Rettung einer sterbenden Sprache“.

Für sie alle hat Martí derweil keine hoffnungsv­olle Einschätzu­ng parat. Obwohl jetzt wieder eine schwere Krise wegen des russischen Angriffskr­ieges in der Ukraine vor der Tür steht, hält der Politologe eine Wiederholu­ng der Entwicklun­g wie in den Jahren bis 2017 für unwahrsche­inlich. „Weder die Aktivisten der Bewegung noch ihre Anhänger werden sich erneut derart für die Unabhängig­keit begeistern und den Verspreche­n erneut Glauben schenken“, sagt Martí.

Viele Separatist­en, die am 11. auf die Straße gingen, wollen das anders sehen. „Der Keim ist vorhanden, wir brauchen nur eine starke Regierung“, sagt die 62-jährige Laura. Ähnlich denken Jordi und Eva. „2017 wurde eine Chance verpasst. Wenn der Druck auf den Straßen nur ein bisschen länger aufrechter­halten worden wäre, hätte es anders ausgesehen. Aber die nächste Gelegenhei­t kommt bestimmt“, meint das Pärchen unisono – und hält seine riesigen gelb-rot gestreifte­n Flaggen stolz in den Wind.

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Foto: dpa Die Unabhängig­keitsbeweg­ung Katalonien­s ist gespalten.

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