Waldsterben unter Wasser
Korallen des Mittelmeeres vor dem Kollaps: Immer häufigere Hitzewellen lassen dem Ökosystem keine Zeit zur Regenerierung
Es war ein in diesem Ausmaß erstmals beobachtetes Phänomen: Im Sommer 1999 starben infolge einer extremen Hitzewelle an Hunderten von Kilometern der französischen und italienischen Mittelmeerküste massenweise Korallen. Nie hätte Joaquim Garrabou, der damals in Marseille das Ökosystem der Korallen und ihre Strukturen wissenschaftlich untersuchte, gedacht, wie schnell sich aus diesem Einzelfall eine „neue Normalität“entwickeln könnte. Trotzdem ließ ihm das Ereignis keine Ruhe und der spanische Meereswissenschaftler begann, sich näher mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die maritimen Ökosysteme, also auch die der Korallen, zu beschäftigen.
Heute ist er Experte auf dem Gebiet, forscht unter anderem am Institut für Meereswissenschaften in Barcelona (ICM-CSIC) und muss mit ansehen, wie die Korallenriffe des Mittelmeeres, so wie in vielen anderen Meeren weltweit, kurz vor dem Kollaps stehen. Und mit ihnen ein Ökosystem, das nicht nur Taucher magisch anzieht. Ein Viertel aller Meerestiere und -pflanzen, so die Umweltorganisation WWF, findet ihren Lebensraum in Korallenriffen, die zu den ältesten Ökosystemen der Welt gehören.
Doch je mehr sich die Meerestemperatur erhöht, umso tiefer müssen Taucher runter, um diese schillernden Unterwasserwälder noch zu Gesicht zu bekommen. Denn Korallen mögen keine Hitze, und meldet sie sich gar, wie es seit Jahren passiert, in immer kürzeren Abständen zurück, wird sie zur tödlichen Gefahr. Für die Korallen, die Riffe, und all die Lebewesen, die von diesem Ökosystem abhängen.
Ein Ökosystem, das nicht nur wegen seiner Farbenpracht fasziniert. So sehen die Korallen, aus denen es sich zusammensetzt, zwar wie bunte Unterwasserblumen aus, sind aber keine Pflanzen, sondern Meerestiere – wenn auch ohne Arme, Beine und Gesichter –, die wiederum aus unzähligen winzigen, wirbellosen Tierchen, den Korallenpolypen, bestehen und zur Gruppe der Nesseltiere gehören. Bei zahlreichen Korallenarten leben die Polypen in Symbiose mit Algen, deren aus der Photosynthese gewonnenen Sauerstoff und Zucker sie verwenden und den Algen dafür einen geschützten Lebensraum und Nährstoffe geben.
Korallen leben in Kolonien, können sich nicht fortbewegen und bleiben stattdessen ihr Leben lang an einer Stelle haften. Dort bilden sich durch ihre Kalkausscheidungen und -skelette im Laufe von Jahrhunderten Kalkriffe, viele dieser Riffe sind mehrere Tausend Jahre alt.
Rund 5.000 Arten wurden bisher weltweit entdeckt, die meisten in tropischen Gefilden, um die 150 sind es laut Joaquim Garrabou im Mittelmeer. Vier von ihnen wurden 2017 in das Abkommen von Barcelona zum Schutz des Meeres und der Mittelmeerküsten aufgenommen, da sie stark gefährdet oder vom Aussterben bedroht sind: der Meeresbambus, die Baum-, die gelbe Baum- und die Steinkoralle.
Immer mehr massives Sterben
1999 war es noch eine eher unwahrscheinliche Befürchtung, dass wiederholte maritime Hitzewellen irgendwann den Bestand der Korallen bedrohen könnten. Doch in nur wenigen Jahren verhärtete sich diese Hypothese zu einer Tatsache. Belegt wird sie unter anderem durch eine Studie, die das ICMCSIC und die Uni Alicante in Zusammenarbeit mit 30 Forschergruppen aus elf Ländern zwischen 2015 und 2019 an der Mittelmeerküste durchführten und deren Ergebnisse, die nicht nur die Korallen betreffen, jetzt veröffentlicht wurden.
„Das Mittelmeer ist ein Schwerpunkt für Biodiversität“,
sagt Joaquim Garrabou. „Es macht nur ein Prozent der Meeresoberfläche der Erde aus, aber hier leben zehn Prozent aller Meeresbewohner.“Zugleich sei es ein Brennpunkt des Klimawandels, der, laut der Studie, ein massives Sterben bei insgesamt 50 verschiedenen Meeresbewohnern hervorruft – unter ihnen die Korallen.
Es sind ihre Grundeigenschaften, die die Hitze für die Korallen zum Verhängnis werden lassen. „Korallen können über 100 Jahre alt werden“, sagt Garrabou, „und sie wachsen sehr langsam“. Gerade einmal 0,25 Millimeter an Durchmesser-Zuwachs im Jahr seien es beispielsweise bei der Roten Koralle, neben der Farbwechselnden Gorgonie ist sie eine der typischen Mittelmeer-Korallen. Ihre Sterberate sei normalerweise gering. Doch je schneller eine Hitzewelle auf die andere folgt, umso weniger oder gar keine Zeit haben die extrem langsam wachsenden Lebewesen, um sich von dem Hitze-Rückschlag zu erholen. Jahrzehnte würden sie dafür brauchen – Zeit, die ihnen zwischen zwei Hitzewellen nicht mehr bleibt. Die Folge: Die Korallenkolonien verlieren immer mehr Individuen, bis sie ganz verschwinden. Es kommt zum massiven Sterben. Wie damals, 1999, nur leider immer häufiger.
Biodiversität geht verloren
Die Auswirkungen sind verheerend, nicht nur für die Korallen. „Wenn die Korallenriffe verschwinden, ist es so, als würden wir an Land die Wälder verlieren“, sagt Garrabou. Nicht umsonst werden die Riffe oft als Regenwälder der Meere bezeichnet. Sie beeinflussen die Meeresströmungen, schützen vor Fluten und bieten vielen Arten Unterschlupf, Nahrung und einen Ort zur Vermehrung – Fischen, Krebsen, Muscheln und Schnecken beispielsweise, in denen das Sterben der Korallenriffe entsprechend weiterwirkt.
„Wir verlieren typische Mittelmeerlandschaften und Biodiversität“, sagt Garrabou.
Was wiederum nicht nur direkte Folgen für die jetzt heimatlosen Tiere habe. „Für die Fischer sind die Korallenriffe von enormer Bedeutung“, nennt er ein Beispiel. Sind es doch Orte, an denen sie in der Vergangenheit mit Sicherheit auf gute Fänge stießen. Auch Freizeittaucher, mit allem, was auch in touristischer und wirtschaftlicher Hinsicht an diesem Sport hängt, müssen sich andere Tauchreviere suchen, sofern sie diese faszinierende, von Korallen geprägte Unterwasserwelt sehen möchten. Sogar die Medizin, weiß Garrabou, profitiert von Korallenriffen, da hier bioaktive Substanzen für Medikamente erzeugt würden. Ganz abgesehen von der Rolle einer gesunden Unterwasserwelt für die
CO2-Bindung – und damit gegen den Klimawandel, der sie bedroht.
Die aktuelle Studie des ICMCSIC ist nicht die einzige, die sich dem Korallensterben widmet. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Erforschung der Biodiversität an der Uni Barcelona (IRBio) hat das ICM-CSIC ein massives Korallensterben im Jahr 2003 in Frankreich zum Anlass genommen, um in den folgenen 15 Jahren Daten über den Zustand der Farbwechselnden Gorgonie und der Roten Koralle zu erfassen. Das Ergebnis: erschreckend.
15 Jahre nach dem massiven Sterben waren die betroffenen Kolonien praktisch ausgelöscht. Auch hier seien die zu nah aufeinanderfolgenden Hitzewellen Schuld gewesen, sagt Cristina Linares vom IRBio. Konkret habe es diese Hitzewellen während des untersuchten
Zeitraums in den Jahren 2009, 2016, 2017 und 2018 gegeben.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Studie des spanischen Küsteninstituts in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Ökologischen Übergang. Untersucht wurde hier die alicantinische Küste, konkret in den Gebieten Ifach bei Calp, Serra Gelada, in der Marina Baja, am Cabo de las Huertas in Alicante und vor der Insel Tabarca. Im Sommer 2018 wurden 307 Kolonien der Rasenkoralle und der Steinkoralle unter die Lupe genommen. 78 Prozent waren bereits schwer von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen – darunter die gefürchtete, durch Hitze auftretende Korallenbleiche. „Vor allem in tropischen Gewässern entsteht die Korallenbleiche dadurch, dass die Symbiose zwischen Alge und Koralle bei zu hohen Temperaturen zerbricht. Im Mittelmeer ist die Bleiche eine Folge des Absterbens des Gewebes, nach dem ein weißes Skelett zurückbleibt“, erklärt Garrabou.
Besserung ist zunächst einmal nicht in Sicht, ganz im Gegenteil. „Selbst wenn es gelingen sollte, die Erderwärmung bei 1,5 Grad Celsius zu stoppen, werden bis Ende des Jahrhunderts wahrscheinlich 70 Prozent aller Korallenriffe verschwunden sein“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“im Februar. Bei einer Erwärmung um zwei Grad wären es 99 Prozent.
Die Zeit drängt
Und trotz allem besteht noch Hoffnung. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass es im Mittelmeer einige Gebiete gibt, in denen die Auswirkungen
dieser klimatischen Phänomene geringer sind“, so das Forschungsteam von IRBio und ICM. Weshalb es besonders wichtig sei, diese „klimatischen Rückzugsgebiete“zu bewahren.
Schutzgebiete im Mittelmeer seien eine riesige Herausforderung, bestätigt Garrabou. Zurzeit seien nur acht Prozent des Mittelmeeres, wie auch der Weltmeere, geschützt. Das muss mehr werden, sagen Wissenschaftler, und so einigten sich die europäischen Staaten darauf, bis 2030 ganze 30 Prozent der europäischen Meere in Schutzgebiete umzuwidmen.
Das hört sich viel an, doch mehr als auf diese Prozentzahlen müsse man den Blick auf den Schutzgrad werfen, betont Garrabou. In weniger als 0,1 Prozent des Mittelmeers sei zurzeit fast jegliche menschliche Aktivität verboten, sprich, sie stehen unter besonders strengem Schutz. Denn neben dem Temperaturanstieg sind es natürlich auch Überfischung, Müll und Verschmutzung, die das Ökosystem im Meer bedrohen. In diesen streng geschützten Gebieten seien die positiven Auswirkungen auf die Unterwasserwelt erwiesenermaßen besonders hoch.
Zehn Prozent der bis 2030 zu schützenden Gebiete sollen daher in Europa künftig diesen extremen Status erhalten, sagt Garrabou und gibt zu, dass die Zeitspanne kurz ist, um diese Ziele umzusetzen. Doch die Korallen und alles, was in und um sie herum schwimmt, atmet, frisst und sich vermehrt, sollte uns Menschen eben nicht nur faszinieren, sondern zum schnellen Handeln drängen.