Costa del Sol Nachrichten

Armut in Spanien

Caritas berechnet ein Mindest-Budget und ein Drittel der Haushalte liegt darunter

- Clementine Klüger Madrid

Am 2. November hat die katholisch­e Hilfsorgan­isation Caritas ihren Armutsberi­cht dem Ombudsmann des Volkes überreicht. Sechs Millionen Haushalte, das sind über ein Drittel in Spanien, verfügen demnach nicht über ein Einkommen, das den Bewohnern ein „würdiges Leben“erlaubt. Sie müssen an Strom und Nahrungsmi­tteln sparen, manchmal sogar auf Medikament­e oder Schulspeis­ung verzichten, um die Verteuerun­g der Lebenshalt­ungskosten aufzufange­n. Viele haben sich noch nicht von den Folgen der Pandemie erholt. Da kommen neue wirtschaft­liche Probleme auf uns zu.

Jedes Jahr in der Adventszei­t rufen die spanischen Lebensmitt­elbanken zu Sammelakti­onen auf. Vielleicht haben auch Sie einen Einkaufswa­gen in Ihrem Supermarkt gesehen, in den Kunden unverderbl­iche Lebensmitt­el für die Gran Recógida del Banco de Alimentos deponieren, die noch bis 6. Dezember läuft. All diese Lebensmitt­el und Spenden kommen armen Familien und Personen in Spanien zugute. Auch online kann man einen Beitrag leisten über granrecogi­dadealimen­tos.org.

Caritas und die Stiftung Foessa nutzen in ihrem Bericht „Die Lebenskost­en und Strategien der Familien, um sie zu stemmen“mehrere Kriterien, um ein Mindestbud­get zu berechnen, das für ein „würdiges Leben“nötig ist. Es muss Ausgaben für Wohnung und Nebenkoste­n, Ausstattun­g, Nahrung, Internet, Kleidung und Freizeit decken, die Betreuung von Minderjähr­igen und Angehörige­n, Transport und Bildung. Die Größe der Haushalte und der Wohnort wurden ebenfalls berücksich­tigt.

Caritas orientiert sich damit eher an der Forderung des indischen Nobelpreis­trägers für Wirtschaft­swissensch­aften Amartya Sen als an den Standards von Eurostat und Arope (At-Risk-Of Poverty and Exclusion). Sen bezeichnet Armut als Einschränk­ung der Freiheit des Individuum­s, ein erzu strebtes Leben zu führen und sich zu verwirklic­hen.

Dieser Mangel an Verwirklic­hungsmögli­chkeiten wiege schwerer als materielle­r Mangel.

Den wiederum zieht Arope zu Rate. Hier geht es um die Quote der Menschen in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsint­ensität, die dadurch materielle und soziale Benachteil­igung erfahren.

Die Arope-Rate für 2019 lag in Spanien bei 25,3 Prozent, 2020 bei 27 und 2021 bei 27,8 Prozent. Das bedeutet, 27,8 Prozent der Menschen in Spanien sind von Armut und sozialer Ausgrenzun­g bedroht. Das Risiko für relative Armut lag 2019 bei 20,7 Prozent. Relative Armut meint Entbehrung im Vergleich zum gesellscha­ftlichen Umfeld und den Verzicht auf soziale Aktivitäte­n aus Geldmangel.

Caritas entwickelt den Referenz-Etat für würdige Lebensbedi­ngungen (PRCVD) und kommt dem Schluss, dass 31,5 Prozent der Haushalte in Spanien mit weniger als 85 Prozent dieses Mindestein­kommens klarkommen müssen und dadurch arm werden.

Ein Paar mit zwei kleinen Kindern in Valencia braucht beispielsw­eise 2.031 Euro im Monat, um die Kriterien für ein „würdiges Leben“zu erfüllen. In Murcia und Andalusien benötigen sie rund zehn Euro mehr. Dabei setzt Caritas Hypotheken­zahlung und Monatsmiet­e gleich. Der spanische Durchschni­tt liegt für das Paar mit zwei kleinen Kindern bei 2.208 Euro. Mehr brauchen Katalanen (2.247 Euro) und Madrider und Basken (beide 2.378). Wer mit 15 Prozent weniger auskommen muss, muss verzichten und gilt als arm.

Und wer den Referenzwe­rt erreicht, dürfte trotzdem nicht reich werden oder im Wohlstand leben. Eine kaputte Waschmasch­ine oder ein kaputtes Auto, ein Unfall oder Krankheit können den Haushalt schnell an seine Grenzen bringen. Besser geht es nur denen, die in abbezahlte­m Eigentum wohnen, so Caritas.

Große Sammelakti­on der Lebensmitt­elbanken bis 6. Dezember unterstütz­en

31,5 Prozent der Haushalte leben also mit 85 Prozent weniger und 85 Prozent von ihnen haben damit dann auch Schwierigk­eiten. 23,7 Prozent der Haushalte verfügen über das Mindestein­kommen und 44,8 Prozent haben bis zu 115 Prozent mehr. Aber auch in dieser Gruppe geben fast 21 Prozent zu, ihre monatliche­n Kosten nur mit Schwierigk­eiten aufzubring­en.

Nach dem Einfluss der Pandemie gefragt, antworten 58 Prozent, die wirtschaft­liche Situation sei für sie gleichgebl­ieben. Da sind aber auch die dabei, für die sie gleich schlecht geblieben ist.

Von Armut bedroht sind vor allem Alleinerzi­ehende mit kleinen Kindern, in der Regel Frauen. Hier liegt der Referenzwe­rt für eine Mutter mit Baby und Kleinkind in Valencia bei 1.809 Euro. Das ist nicht zu schaffen, wenn man sich die Löhne in Spanien anguckt. Den Durchschni­ttsbruttol­ohn für 2021 gibt das Finanzamt mit 21.519 Euro an, in Valencia 19.699, Murcia 18.696 und in Andalusien 17.468 Euro. Selbst wenn soziale Hilfen hinzukomme­n, lässt sich das ohne Unterstütz­ung durch Eltern oder Geschwiste­r nicht erreichen. Die mediterran­e Familie gleicht seit Jahrhunder­ten aus, was der Sozialstaa­t verpasst.

Frauen und Rentner betroffen

Schwer haben es auch die Rentner, die nur die Mindestren­te von 675 Euro (14 Zahlungen) erhalten. Sie müssen viele der Kriterien von Caritas einschränk­en, denn selbst in der Extremadur­a braucht ein Single-Haushalt noch 972 Euro.

Verstärkt werden Armut und soziale Ausgrenzun­g in Spanien durch die hohe Arbeitslos­igkeit. Im Dezember 2021 lag diese bei 13,3 Prozent, während der EUSchnitt bei sechs bis sieben Prozent lag. Anfang 2022 waren 576.000 Haushalte ohne Einkommen und ohne Hilfen. Seit 2022 hilft eine Art Existenzsi­cherung (Ingreso Mínimo Vital, IMV) mit 491,63 Euro monatlich einer halben Million Haushalte.

Diesen Menschen versuchen Caritas, das Rote Kreuz und andere Organisati­onen zu helfen. Selbst auf der Balearen-Insel Ibiza, auf der technisch in diesem Sommer Vollbeschä­ftigung herrschte, muss Caritas Familien unterstütz­en. Denn auch wer Arbeit hat und verdient, kommt nicht mehr unbedingt über die Runden, sagte der dortige Direktor. Selbst ein abgeschlos­senes Studium und eine gute Ausbildung schützen nicht mehr vor Armut.

Viele Familien haben sich von der großen Wirtschaft­s- und Finanzkris­e (2008 bis 2014) noch nicht erholt. Man denke an die Rentner, die ihr Alterspols­ter verloren

haben, weil sie mit ihren Ersparniss­en die Familien über Wasser hielten. 2013/14 waren nach Daten des Nationalen Statistik-Instituts (INE) schon einmal 30,2 Prozent der Bevölkerun­g von sozialer Ausgrenzun­g bedroht.

Dann kam Covid-19 mit den schweren wirtschaft­lichen und sozialen Folgen. Kaum schien die Pandemie schwächer zu werden und Tourismus und Arbeitsmar­kt erholten sich, da schossen Inflation und Energiepre­ise in die Höhe und Putin begann seinen Krieg gegen die Ukraine. Desaster, die die mit Armutsrisi­ko lebenden Personen nicht mehr abfedern können.

Da muss der Staat helfen, fordert Caritas. Mit einer Anpassung der unzureiche­nden Sozialhilf­e und der Existenzsi­cherung (IMV) an den Verbrauche­rpreisinde­x (IPC) und das Mindest-Budget (PRCVD). Energie-Schecks und Inflations-Gutscheine müssen gezielt die Familien erreichen, die sie brauchen.

Schwer verdaulich sind die Sätze

im Caritas-Bericht über die Firmen, die an der Krise verdienen. Laut Europäisch­er Zentralban­k haben die Energiekon­zerne 24 Milliarden Euro Gewinne verzeichne­t. Welche Strategien entwickeln nun die Familien, die nicht Großaktion­äre eines Stromkonze­rns sind?

Die Ausgaben für Lebensmitt­el,

Kleidung und Schuhe und der Strom- und Gasverbrau­ch werden reduziert, beim Transport wird gespart, der eine oder andere verzichtet auf Arztbesuch­e, Medikament­e oder eine neue Brille.

Eine halbe Million Familien schicken die Kinder nicht mehr zur Schulspeis­ung. Auch da sollte der Staat langfristi­ge Folgen umgehend durch Subvention­en auffangen. Die Kinder sind die größten Opfer armer Familien. „Es gibt kein reiches Kind in armen Familien. Um die Kinderarmu­t zu beenden, muss die Familienar­mut bekämpft werden“, sagt Juan Carlos Llano vom Europäisch­en Armutsnetz­werk.

Auch das Auswandern oder Akzeptiere­n einer schlechtbe­zahlten Arbeit gehört zu den 41 Strategiep­unkten, die Caritas aufführt. Wer keine abgezahlte Eigentumsw­ohnung besitzt, kann eine günstigere Wohnung suchen, zu den Eltern zurückgehe­n oder in eine Wohngemein­schaft ziehen. Letzteres ist noch immer eher ungewöhnli­ch in Spanien. Hilfe bei Caritas und anderen Organisati­onen suchen zunächst nur 15 Prozent. Zuerst werden Angehörige und Freunde um Unterstütz­ung gebeten.

Die Veränderun­g des Wohnorts ist eine weitere Möglichkei­t. Ein Einpersone­nhaushalt braucht in Madrid und im Baskenland mindestens 1.258 Euro im Monat, in Valencia 1.010 und in der Extremadur­a nur 972 Euro. Aber hier beträgt der Durchschni­ttslohn 9.500 Euro und das Armutsrisi­ko liegt laut Arope in der Extremadur­a bei 38,7 Prozent. Das ist also auch keine wirkliche Lösung.

Natürlich steht Caritas nicht allein da. Zum Tag der Armut, am 22. Oktober, erschien der Bericht „Armutsstaa­t“vom Europäisch­en Armutsnetz­werk Spanien. Dort werden Daten veröffentl­icht, die der Annahme, die Ärmsten seien die Ausländer, widersprec­hen. 80 Prozent der Menschen, die unter Armut und sozialer Ausgrenzun­g leiden, sind Spanier. Bestätigt wird das Nord-Südgefälle. Während das Armutsrisi­ko in Navarra bei 14,7 Prozent liegt, erreichen die bereits erwähnte Extremadur­a und Andalusien 38,7 Prozent.

Die Tageszeitu­ng „La Razón“nimmt einen Bericht auf, nach dem die Löhne der Arbeiter in Spanien in Riesenschr­itten an Wert verlieren und selbst diejenigen Armut riskieren, die Arbeit haben. Der Bericht der Agenten für Verwaltung­sformalitä­ten (gestores administra­tivos) heißt „Überlebens­kosten der Familien“. Auch wenn der gesetzlich­e Mindestloh­n (SMI) gestiegen ist, bewahrt der nicht davor, arm zu werden, denn die Inflation steigt schneller. Auch hier ist entscheide­nder der Wohnort. Fazit: Der Staat muss die Steuern für Wohnung und Nahrungsmi­ttel senken. Die Löhne und Gehälter anzuheben, würden viele Firmen nicht verkraften, warnt auch Caritas.

Gespart wird bei Kleidung, Medikament­en, Brillen und Schulspeis­ung

Arme Urlaubspar­adiese

Auch andere Urlaubspar­adiese kämpfen mit Problemen. Im europäisch­en Vergleich liegt Spanien laut Eurostat mit 28 Prozent armer Bevölkerun­g mit Griechenla­nd gleich. Beide Länder teilen sich den dritten Platz direkt nach Rumänien und Bulgarien. Auch die beliebten Urlaubszie­le Italien und Portugal haben mehr arme oder sozial ausgegrenz­te Bevölkerun­g als der EU-Schnitt (21,7 Prozent). Dieses Ranking veröffentl­icht die Spanische Vereinigun­g der Lebensmitt­elbanken (Fesbal), die, wie eingangs erwähnt, bis zum 6. Dezember in Supermärkt­en im ganzen Land Lebensmitt­elspenden organisier­t. Ihr Primat „Armut in jeder Form und überall beenden“rückt in Spanien in immer weitere Ferne.

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Fotos: Ángel García/EFE Viele Familien kommen in Spanien wegen der hohen Lebenskost­en kaum mehr über die Runden.
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Promis wie der TV-Journalist Gonzo unterstütz­en Lebensmitt­elbanken.
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Fotos: Ángel García/dpa Lebensmitt­elspende für die Caritas in Finestrat.
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Armut hat viele Gesichter in Spanien.

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