Kleines Öllicht im Wind
Juden in Spanien feiern 2023 gedämmtes Chanukka: Was hinter dem Fest und der Gemeinschaft steckt
Ein kleiner versiegelter Krug nur. Viel zu wenig. Reichen würde das Öl nur für Licht an einem Tag. Nötig waren aber zumindest acht. So lange würde es dauern, um neues koscheres Öl für die Menora, den siebenarmigen Leuchter, nach Jerusalem zu holen. Doch ein Wunder geschah. Das bisschen geweihte Öl reichte aus unerfindlichen Gründen für acht Tage Licht. Der zurückeroberte Tempel konnte wieder geweiht werden. Knapp 2.200 Jahre später feiert auch Spaniens jüdische Gemeinschaft die alte Geschichte als Lichterfest Chanukka.
An acht Tagen, diesmal 7. bis 15. Dezember, wird je ein neues Licht des achtarmigen Leuchters Chanukkia entzündet. Das ursprünglich nichtreligiöse Fest gilt als eines, mit dem sich das eher diskrete jüdische Volk besonders nach außen bemerkbar macht. Nun aber, im jüdischen Jahr 5784, wird das Strahlen vom Dunkel der Zeit bedrängt wie lange nicht mehr. „Es wird ein gedämpftes Chanukka“, glaubt María Royo, Sprecherin des Verbands jüdischer Gemeinden in Spanien (FCJE).
Zu stark wiegt das Trauma des 7. Oktobers. Des Hamas-Angriffs auf Israel, des Massakers, das an den Holocaust erinnern ließ. Ein Anschlag auf die jüdische Seele, just zum Abschluss des Laubhüttenfests Sukkot. Und nicht nur das.
Denn seit in Israel und Gaza die Gewalt eskalierte, mehrt sich in Europa der Gegenwind, ja die Feindseligkeit gegen Juden. Eine wachsende Zahl antisemitischer Vorfälle meldet Spaniens Observatorio Antisemitismo. Besonders symptomatisch: ein Angriff im Oktober im multikulturellen Melilla, dem „kleinen Jerusalem“, auf die älteste der Synagogen, die die Juden seit ihrer Rückkehr in die alte spanische Heimat errichteten.
Sepharden und Aschkenasen
45.000 Menschen gehören in Spanien heute der jüdischen Gemeinschaft an. Nicht so viele, im Vergleich etwa zu den 700.000 in Frankreich. Doch so einige nicht registrierte Juden werden vor allem in Katalonien oder an der Costa del Sol verortet. Gewöhnt haben sie sich an ein eher leises Dasein. Nur langsam, nach und nach, leuchtete in den vergangenen Jahren die jüdische Präsenz in Spanien heller auf. Vor allem Chanukka 2022 setzte etwa in Madrid einige Glanzlichter.
Nun aber scheint ein erneuter Rückzug zu erfolgen. Auch uns melden mehrere jüdische Gemeinden, für Medien aktuell nicht zur Verfügung zu stehen, bis wir erst beim Verband in Madrid auf Gesprächsbereitschaft stoßen. „Israel“, sagt
„Kinder lernen jüdische Traditionen, damit sie wissen, wer sie sind“
María Royo, „ist die nationale Heimat der Juden“. Und ja, das gelte auch für die, die in Spanien (erneute) Wurzeln geschlagen haben.
Irgendwann im 19. Jahrhundert kämpfte sie sich, durch die Asche alter Traumen, an die Oberfläche: Die Flamme in den jüdischen Herzen für ihre alten Heimatstätten. Während der Zionismus immer bestimmter den Staat Israel erträumte, richtete sich – auf anderer Herzensebene – bei einigen der Blick ins Land Sepharad (Spanien), das die Vorfahren so lange beherbergt, vielfach gebeutelt und anno 1492 (jüdisch 5252) unter den Katholischen Königen kaltblütig verbannt hatte.
Zunächst in Ceuta und Melilla, dann in Sevilla, Madrid und Barcelona, ließen sich schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert jüdische Gruppen nieder. Eine neue Welle bewirkte der Erste Weltkrieg. In Spaniens Städten erwuchsen Synagogen, jüdische Friedhöfe. Sepharden, also Nachfahren der spanischen Vertriebenen, zogen aus Nordafrika oder Lateinamerika in die Heimat der fernen Ahnen.
Aber nicht nur sie. „Die, die etwa aus Argentinien kamen, waren vorwiegend aschkenasische Juden“, erklärt Royo. Die einst in Nord- und Osteuropa heimische Gruppe sei in Spanien mittlerweile genauso verbreitet. „Heute sind wir eine sehr gemischte Gemeinschaft“, sagt die Sprecherin der spanischen Juden, die übrigens selbst keine Jüdin ist.
„Weil sie sich spanisch fühlen“
Ob Sepharden oder Aschkenasen, eine allzu große Rolle spiele das in der heutigen Gemeinschaft der Juden in Spanien nicht. Zwar unterscheiden sich ihre Liturgie oder ihre noch in kulturellen Sphären präsenten Sprachen Ladino und Jiddisch. De facto hätten die Allermeisten aber eine gemeinsame, pragmatische Basis für die Spanienmigration gehabt: „Sie konnten die Sprache, das Castellano. Das machte es einfacher, sich zu integrieren“.
Schwere Proben waren jedoch zu meistern. 1939 verbot die Diktatur die jüdische Gemeinschaft auf der Iberischen Halbinsel (nicht in Ceuta, Melilla und Marokko). Nach 1945 trat eine langsame, aber merkliche Öffnung ein. In den Städten gedieh, zunächst in privaten Bereichen, das kulturelle Leben der Juden und Jüdinnen. 1964 verlieh das Regime ihnen eine politische Legalität. Als religiöse Gemeinschaft akzeptierte sie 1967 das neue Religionsfreiheitsgesetz.
Prompt sprossen auch in Málaga, Alicante, auf Mallorca jüdische Gemeinden. Die Transición erleichterte es ihnen, sich spanienweit zu organisieren. So nahm der Verband FCJE an Bedeutung zu, der mittlerweile eine feste Stütze spanischer Juden ist – unter anderem in Sachen Nationalität. 2015 aktualisierte Spaniens Regierung ein Gesetz zur Wiedereinbürgerung sephardischer Nachkommen. Ohne
die andere Nationalität zu verlieren, konnten auf der ganzen Welt verstreute Betroffene zusätzlich einen spanischen Pass erhalten.
Keineswegs werde die Option nur für eine Zuwanderung genutzt: „Viele bemühen sich darum, einfach weil sie sich spanisch fühlen“, versichert Royo. Das Pflegen eigener Wurzeln – vor allem aber der Volkskultur im tieferen Sinne – sei den hiesigen Juden sehr wichtig.
Eine große Rolle spiele das Unterrichten von Kindern. „In Spanien gibt es drei konfessionelle jüdische Schulen: in Barcelona, Madrid und Melilla.“Doch zum schulischen Lehrplan kommt noch der kulturell-religiöse. Hierzu gehört etwa die Bar Mizwa (Jungen) oder Bat Mizwa (Mädchen). „Durch den Brauch werden 13-Jährige in den Rang der Älteren aufgenommen. An dem Tag lesen sie in der Synagoge erstmals die Tora.“
Weitergeben der Essenz
Eine lange Vorbereitung geht dem voraus. Hebräisch muss gelernt werden sowie eine spezielle Art des Lesens, der Gebote, der Feierlichkeiten. „Das Grundlegende für die Juden sind die zehn Gebote. Das ist Mose, die Propheten. Dazu kommen die, viel späteren, Schriften des Talmud und der Mischna“, erklärt Royo. Auf solche Fundamente, die Jahrtausende in die Geschichte reichen, verweisen nicht zuletzt auch die jüdischen Feiern.
Wenn etwa das Schofarhorn zum Neujahrsfest Rosch ha-Schana (zuletzt im September) ertönt, ist es der Klang, der 1200 vor Christus schon die Mauern Jerichos zum Einsturz brachte. Als Weckruf für einen wachen Geist wird er bis heute bereits jungen Juden vermittelt.
Voller Symbolik ist auch Chanukka. Eine Seite ist das Licht, das im Dunkeln der nahenden Wintersonnenwende erscheint. Aber die andere Seite ist die Substanz, die das Leuchten überhaupt ermöglicht.
„Chanukka ist auch das Fest des Öls“, klärt Royo auf. Lauter in Öl zubereitete Speisen, Krapfen oder Pfannkuchen kommen in diesen Tagen daher auf den Tisch. Zum Gaumenvergnügen, aber auch als allegorischer Verweis auf ursprüngliche Wesenheiten des Judentums. Dieses, so heißt es zu Chanukka öfters, sei ja selbst wie ein wertvolles Öl: voller Essenz, leicht in alle Räume gelangend, sich mit anderen Flüssigkeiten aber nicht mischend.
Bei all der leidenschaftlichen Pflege der Bräuche sei diese allerdings nicht mit enormer Frömmigkeit zu verwechseln. „Sehen Sie Israel an. Es hat eine sehr säkularisierte Gesellschaft“, bemerkt Royo. „Aber die Traditionen weitergeben, das ist noch etwas anderes. Die Kinder lernen sie, damit sie wissen, woher sie kommen. Wer sie sind.“Das beharrliche Weitergeben
der eigenen Identität sei das Geheimnis des kleinen auserwählten Volkes, um durch all die Epochen bis heute – als Träger einer Weltreligion – überlebt zu haben.
Im Inneren des Tempels
„Man muss sehen, wer alles ihre Zeitgenossen waren: Perser, Chaldäer, Babylonier, die alten Ägypter und Römer“, betont Royo. „Aber nur die Juden überdauerten, obwohl sie ständig verfolgt, ausgeschlossen, hinund hergesiedelt wurden.“An das beständige Ringen um Freiheit, um den Erhalts der eigenen Essenz – an das müsse man auch heute denken, wenn man über Juden und ihre Herzens-Heimat Israel spricht.
Allzu oft werde es vergessen, mahnt María Royo. Immer wieder. Doch auch vor 2.200 Jahren betrachteten die hellenistischen Besatzer das jüdische Volk schon als erledigt. Verboten waren dessen Bräuche, das Heiligtum des einen Gottes war für damalige Götzen umgewidmet. Im Inneren des Tempels aber waren nur scheinbar die letzte Flamme aus und kein Tropfen Öl mehr da.