Warum tun die das?
Seit 2020 rammen Orcas vor der Atlantik-Küste Boote – Erklärungsversuche reichen von Modetrends über Rache bis zum „Schwarm“
Judith Finsterbusch
systematisch sein Boot zu rammen – das Ruderblatt hatten sie schon mit dem ersten Schlag zerstört, es trieb jetzt in zwei Teilen auf der Wasseroberfläche. Etwa zehn der schwarzen Tiere mit den charakteristischen weißen Flecken zählte Szymanski, zwei Weibchen mit mehreren Jungtieren, die ihnen nicht von der Seite wichen, und zwei Bullen. Letztere schienen nur spielen zu wollen, sie balancierten das Ruderblatt auf der Nase, entfernten sich, kamen wieder. „Ich setzte sofort den Notruf ab und warf dann alles von Bord, was mir so einfiel, Matratzen, Decken, um die Bullen bei Laune zu halten“, sagt Szymanski.
Doch während sich die Männchen mit dem Treibgut beschäftigten, interessierte die Weibchen und ihre Jungtiere das Spielzeug des 55-Jährigen herzlich wenig. „Sie tauchten immer wieder 15, 20 Meter weg, nahmen Anlauf und krachten dann mit voller Kraft in die Seite des Bootes“, schildert Szymanski. Der Segler wusste, dass sein Boot das nicht ewig durchhalten würde, packte seine Wertsachen zusammen, schnappte sich die Rettungsinsel und wartete, ob irgendwo Gluckern von eintretendem Wasser zu hören war: „In dem Moment hatte ich mit meinem Leben abgeschlossen. Ich rief meine Frau an und verabschiedete mich von ihr.“
Szymanski wurde gerettet, nach 55 Minuten kam die spanische Küstenwache und schleppte sein Boot in den Jachthafen von Barbate. Dort sollte er sieben Tage bleiben, sein 40 Jahre altes Boot, das er vier Jahre lang in den Niederlanden eigenhändig restauriert hatte und mit dem er ab Valencia eine Weltumsegelung mit einem Freund starten wollte: Totalschaden. Was der Deutsche kurz vor der Meerenge von Gibraltar erlebt hat, ist längst kein Einzelfall. Allein in der Woche, die er im Hafen von Barbate verbrachte, wurden fünf weitere Boote dorthin geschleppt, allesamt zerstört von Orcas, immer als erstes das Ruder. Seit Mitte 2020 registriert die Küstenwache Notrufe von Skippern, die von Orcas gerammt wurden, vom galicischen A Coruña über die portugiesische Küste bis runter in die Meerenge von Gibraltar, Einzelfälle gab es bis Marbella.
Wie viele Boote tatsächlich betroffen sind, ist nicht genau feststellbar, es gibt keine offizielle Statistik, nur die Meldungen von Skippern – zumal freilich nicht alle Begegnungen mit den Tieren mit einem Totalschaden enden, aber auch schon drei Boote gesunken sind. Aber es zeichnet sich ein Schema ab: Fast immer haben es die Schwertwale auf Segeljachten abgesehen, fast immer sind die Boote acht bis 13 Meter lang, fast immer war als erstes das Ruder zerstört, scheinbar gezielt.
Vor dem Sommer 2020 gab es dieses Phänomen – Medien sprechen gerne von Angriffen oder Attacken, Walforscher bevorzugen den Begriff Interaktion – nicht. Stellt sich die große Frage, warum Orcas es plötzlich auf Boote abgesehen haben. „Jeder Meeressäuger geht normalerweise sehr vorsichtig mit Booten um und hält Abstand“, sagt Thomas Käsbohrer. Der Deutsche hat sich intensiv mit dem Phänomen befasst, mit über 40 Seglern gesprochen, deren Boote von Orcas gerammt wurden, Interviews mit Experten geführt. Die Ergebnisse hat Käsbohrer, selbst seit über 30 Jahren Segler, in dem Buch „Das Rätsel der Orcas“zusammengefasst.
Theorien, warum sich die Meeressäuger plötzlich so seltsam verhalten, gibt es viele, und längst beschäftigen sie auch die spanische Regierung, die im Oktober 2021 eine Studie in Auftrag gab, die herausfinden soll, warum die Tiere so handeln und wie man Zusammenstöße künftig vermeiden kann. Immerhin kommt Autor Käsbohrer
In drei Jahren haben die Orcas 500 Segelboote zerstört oder beschädigt