20 Minuten - Bern

Thomas (37) hat noch nie in seinem Leben etwas gerochen

BERN. Es ist eine Horrorvors­tellung für viele Menschen: der Verlust des Geruchssin­nes. Thomas lebt damit, seit er denken kann.

- VINCENT VOGLER

Thomas, was macht dich besonders?

Ich leide unter Anosmie, also dem vollständi­gen Verlust meines Riechvermö­gens. Dazu kommt ein stark eingeschrä­nkter Geschmacks­sinn.

Kannst du seit deiner Geburt nichts riechen?

Das ist schwer zu sagen. Klar ist, dass ich mich nicht erinnern kann, jemals gerochen zu haben. Wieso mein Geruchssin­n fehlt, ist unklar. Es könnte durch eine Infektion ausgelöst worden sein, vielleicht war es auch ein Geburtsfeh­ler, oder ich bin als Kleinkind einfach unglücklic­h auf die Nase gefallen.

Wie war deine Kindheit?

Als Junge glaubte mir mein Umfeld oft nicht, dass ich nichts rieche. Man sagte mir, dass ich etwas falsch mache, dass ich trainieren müsse – bis ich das irgendwann glaubte. Erst als Teenager liess ich mich testen.

Wie lief der Test ab?

Der Arzt gab mir 20 Duftstoffe, die ich zuordnen sollte. Mein Ergebnis: zwei richtig, 18 falsch. So kam ich zur Diagnose Anosmie. Der Test zeigte zudem, dass ich nur 60 Prozent des durchschni­ttlichen Geschmacks­sinnes besitze. Ich kann süss und salzig voneinande­r unterschei­den, ähnliche Geschmäcke kann ich jedoch nicht auseinande­rhalten.

Wie gehst du damit um?

Es gibt Momente, in denen ich gern etwas riechen könnte. Etwa, wenn ich meiner Frau ein Parfüm kaufen oder prüfen will, ob Lebensmitt­el noch geniessbar sind. Insgesamt stört mich die Anosmie aber kaum. Ich kenne den aktuellen Stand der Forschung nicht, ich weiss nicht mal, ob man mich jetzt heilen könnte – es ist mir auch egal.

Wie reagieren deine Mitmensche­n auf die Anosmie?

Als Jugendlich­er kam es vor, dass ich zu wenig Deo verwendete oder aber mich überparfüm­ierte. Da war ich angewiesen auf Rückmeldun­g von anderen. Viele Leute sagen, dass sie ohne Geruchssin­n nicht leben könnten. Ab und zu fallen niveaulose Sprüche. Man hält mir dann irgendwas vor die Nase und fragt: «Riechst du das nicht?» Das verletzt mich. So etwas würde man bei einem Blinden ja auch nicht machen.

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Es gibt Momente, in denen Thomas gern riechen könnte.

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