«Das Land könnte wieder zum Hort für Terroristen werden»
Nahostexperte Erich Gysling sagt, wie es zum Vormarsch der Taliban kam und wie es nach der Machtübernahme in Afghanistan weitergeht.
Herr Gysling, die afghanische Regierung hat eine «friedliche Machtübergabe» an die Taliban angekündigt. Was bedeutet das?
Im Klartext ist das eine Kapitulation. Die geplante Übergangsregierung ist eine Farce, in ein paar Wochen werden die Taliban auch dort die Kontrolle übernehmen.
Wie konnten die Taliban so schnell vorrücken?
Eigentlich ist die afghanische Armee den Taliban militärisch überlegen. Der Kampfeswille ist aber klein: Viele Soldaten bekamen in den letzten Wochen zum Beispiel gar keinen Sold. Ihre Loyalität gegenüber der jetzigen Regierung ist sehr niedrig.
Wo liegen weitere Probleme?
Die Korruption im Land ist gigantisch. Es ist umgerechnet rund eine Billion Franken an Aufbauhilfe bezahlt worden. Davon kam aber nur sehr wenig bei der Bevölkerung an: 72 Prozent der Afghaninnen und Afghanen leben in Armut.
Das haben sich die westlichen Regierungen wohl anders vorgestellt.
Ja, im Westen ist man zu Recht desillusioniert. Auch militärisch wird man im Land nicht mehr eingreifen: Die US und Natotruppen kehren nicht mehr zurück.
Im Moment geben sich die Taliban noch betont gemässigt. Was passiert, wenn sie die Macht übernehmen?
Sie werden die Scharia wieder einführen. Es wird wohl eine ähnliche Situation sein wie vor dem Militäreinsatz der USA 2001. Zu dieser Zeit regierten die Taliban ebenfalls: Menschen wurden aufgrund zweifelhafter Beweise öffentlich hingerichtet und Frauen durften nicht in die Schule gehen. Zudem könnte das Land wieder zu einem Hort für islamistische Terroristen werden.