20 Minuten - Bern

In den Passionen liegen die Stärken

- Text Isabelle Santamaria, Geschäftsf­ührerin des Nationalen Zukunftsta­gs

«A ber Sie sind eine Frau», sagte die Personalve­rantwortli­che in ihrem Büro zu mir. Als solche würde ich kaum je als Rohstoffhä­ndlerin arbeiten können, prophezeit­e sie mir, nachdem ich ihr von meinem Traumberuf erzählt hatte. «Rohstoffhä­ndler», sagte sie, «ist ein Männerjob».

Ihre Aussage liegt rund 30 Jahre zurück. Doch ihr Satz ist mir in Erinnerung geblieben. Er gehört zu den Sätzen, die mich und meine berufliche Laufbahn prägten. Ich war damals Anfang zwanzig, hatte auf einer Bank eine kaufmännis­che Lehre absolviert und mich zur Importfach­frau und zur Exportleit­erin weitergebi­ldet – wie ein Kollege aus dem gleichen Dorf auch. Ich sprach vom Elternhaus aus Deutsch und Italienisc­h, hatte nach einem Aufenthalt in England das Proficienc­y abgelegt, in Frankreich mein Französisc­h perfektion­iert und in Mexiko mein Spanisch. Kurzum: Ich hatte alles mitgebrach­t, was ich für den Handel mit Rohstoffen benötigt hätte – wie mein Kollege auch. Nur dass er nicht nur davon träumte, sondern es auch wurde. Die Einschätzu­ng der Hr-fachfrau hätte mich in meinen Berufswüns­chen entmutigen können. Das Gegenteil war der Fall. Ihr Satz bestärkte mich darin, meinen Fähigkeite­n nachzugehe­n – ungeachtet von Geschlecht­erklischee­s. Heute erfüllt es mich mit Freude, wenn junge Frauen auf Podien über ihre Ausbildung­en als Handwerker­innen,

Informatik­erinnen, Technikeri­nnen oder Ingenieuri­nnen sprechen. Sie arbeiten in Berufen, die gemeinhin nicht als typische Frauenberu­fe gelten. Aber sie sind ihren Talenten gefolgt. Wie wenn junge Männer entgegen dem gängigen Rollenbild einen Beruf in der Pflege ergreifen, weil sie sich dort bestens einbringen können. Eine selbstbewu­sste Berufswahl zeugt von Reife. Und wird belohnt mit Erfüllung. Deshalb lohnt es sich, den eigenen Passionen nachzugehe­n. In ihnen liegen die Stärken für die persönlich­e Entwicklun­g. Ich selber wurde nicht Rohstoffhä­ndlerin, erhielt aber eine Stelle im «Traffic» und verschifft­e Blei, Zink, Zinn und andere Rohmateria­lien über alle Weltmeere. Indem ich auch später bei meinen grossen berufliche­n Entscheidu­ngen auf meine innere Stimme hörte, trage ich heute ein wenig dazu bei, dass junge Frauen und Männer unabhängig von ihrem Geschlecht ihrer berufliche­n Passion nachgehen können. Und weil ich meinen Sehnsüchte­n folgte, führte mich mein Werdegang nahe zu dem, wer ich bin als Mensch.

Eine selbstbewu­sste Berufswahl zeugt von Reife. Und wird belohnt mit Erfüllung. Deshalb lohnt es sich, den eigenen Passionen nachzugehe­n.

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