«Erdogan marschiert diese Woche in Kurdengebiete ein»
BERLIN. Die Türkei bombardiert kurdisch kontrollierte Gebiete in Syrien. Wann schickt sie Bodentruppen? Fragen an Türkei-experte Günter Seufert.
Herr Seufert*, wann rechnen Sie mit einer türkischen Bodenoffensive?
Es gibt Berichte, dass Einheiten bereits in Bewegung gesetzt wurden. Erdogan wird das Eisen schmieden, solange es heiss ist. Er kann nach dem Attentat in Istanbul Vergeltung jetzt nach internationalem Recht üben. Deswegen denke ich, dass er noch diese Woche in die Kurdengebiete einmarschiert.
Rechtfertigt der Anschlag die Offensive?
Kaum. Es ist atemberaubend, wie in sich widersprüchlich die Darstellungen der Regierung und der Sicherheitsbehörden sind.
Inwieweit spielt der Ukraine
Krieg eine Rolle?
Erdogan hat durch den Krieg mehr Spielraum erhalten. Er hat ihm die Möglichkeit verschafft, seine Balancepolitik zwischen Russland und dem Westen auszubauen. Beide schätzen ihn als Verhandler – und er hat ja auch Erfolge vorzuweisen, etwa beim
Getreideabkommen. Die Türkei regelt in ihrer strategisch günstigen Position nun einmal den Zugang zum Bosporus und den Dardanellen. So gibt es derzeit niemanden, der diese Verhandlungsposition ausfüllen kann. Und Erdogan nutzt das reichlich aus. Die Türkei beteiligt sich nicht an den westlichen Sanktionen, sondern umgeht diese und profitiert stark davon. So hat sich der russischtürkische Handel in den letzten Monaten im Vergleich zu den Jahren davor mehr als verdoppelt. Russische Gelder fliessen in Strömen in die Türkei.
Was sind Motive für die Offensive?
Die Wahlen im nächsten Juni spielen neben anderem sehr stark hinein. Die Opposition hat die Chance, die AKP zu verdrängen. So muss Erdogan ein Klima aussenpolitischer Bedrohung aufrechterhalten. Militärische Interventionen sind dafür ideal. In Krisen wählen die Leute den starken Mann. *Günter Seufert ist Leiter der Forschungsgruppe Türkei/centrum bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.