20 Minuten - Bern

«Ich realisiert­e nicht, dass am Strassenra­nd Leichen lagen»

Bar Mizrachi (29) hat das Blutbad der Hamas hautnah miterlebt: Beim Schweiz-besuch erzählt er 20 Minuten exklusiv seine Geschichte.

- LYNN SACHS Das Videointer­view mit Bar Mizrachi gibt es hier.

Im Nahen Osten herrscht seit sieben Wochen Krieg. Der 29-jährige Medizinstu­dent Bar Mizrachi war am 7. Oktober im

Kibbuz Gevim, nahe dem Gazastreif­en. «Am Freitagabe­nd sassen wir noch gemütlich am Tisch, unterhielt­en uns und tranken Bier und Wein.» Am nächsten Morgen wurde die Familie von einem Raketenala­rm aus dem Schlaf gerissen. Sobald die Sirene im Kibbuz Gevim ertönt, haben die Bewohnerin­nen und Bewohner 15 Sekunden, um sich in die Schutzräum­e zu begeben. «Es flogen mehr Raketen über uns denn je. Kurz danach hörten wir Maschineng­ewehre. Zum ersten Mal in meinen 29 Jahren hatte ich Angst davor, dort zu leben, wo ich lebe.»

Wie Bar erzählt, hatte er an diesem Morgen ein mulmiges Gefühl: «Ich sagte zu meinem Vater: Das ist ein Gambit. Diesmal machen sie etwas anders.» Nachdem sie Nachrichte­n aus nahegelege­nen Kibbuzen erhalten und erfahren hatten, was dort geschah, verbarrika­dierten er und sein Vater jegliche Türen und Fenster mit Möbeln. «Wir haben darüber gesprochen, was wir tun, sollten die Terroriste­n in unser Haus eindringen. Ich wünsche niemandem, dass sie sich jemals Gedanken darüber machen müssen, ob sie als Geiseln genommen werden oder sterben müssen.» Nach 36 Stunden konnte die Familie den Bunker verlassen. Da Bars Freundin in Tel Aviv lebt, sprang er sofort ins Auto. «Ich fuhr wie ein Verrückter. Ich war so auf meine Mission fokussiert, dass ich nicht realisiert­e, dass Leichen

am Strassenra­nd lagen.» Die Erlebnisse und Bilder vom 7. Oktober haben sich aber in seinen Kopf eingebrann­t. «Noch Tage später hörte ich Alarme und Explosione­n in meinem Kopf. Seither habe ich eigentlich nie mehr richtig schlafen können.» Beim Angriff durch die Hamas hat der Israeli mehrere Freunde und Bekannte verloren. Er erzählt von einer Beerdigung eines Kindheitsf­reundes, der am Nova-festival getötet wurde: «Nachdem die Zeremonie zu Ende war, blieben alle vor Ort. Zuerst dachte ich, dass sie sich nicht von der Person verabschie­den wollten. Später wurde mir klar, dass alle blieben, weil sie einfach nicht wussten, wohin sie gehen sollten.»

Seit dem letzten Donnerstag ist Bar in der Schweiz. Hier besucht er seine Schwester. «Mein Land während des Krieges zu verlassen fühlte sich wie ein Verrat an. Ich habe jeden meiner Freunde, die derzeit als Reserviste­n

tätig sind, angerufen und sie um Verzeihung gebeten.» In der Schweiz will Bar unter anderem Zeit mit seinem kleinen Neffen verbringen. «Eigentlich liebe ich es, hier allein in die Natur zu gehen. Aber seit dem, was passiert ist, habe ich grosse Angst davor, mit meinen Gedanken allein zu sein.» Dennoch schaut der Student nach vorn: «Ich will nicht, dass meine Freunde, Lehrer und Bekannten umsonst gestorben sind. Daher muss ich, auch wenn es mir nicht leichtfäll­t, mein Leben geniessen.»

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20min/matthias Spicher Bar Mizrachi beim Gespräch mit 20 Minuten.
 ?? Privat ?? Mizrachi mit seinen eltern am 7. Oktober im Bunker.
Privat Mizrachi mit seinen eltern am 7. Oktober im Bunker.
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