Der «Islamische Staat» ist noch immer aktiv
ERBIL. 20 Minuten ging drei Wochen in Syrien und im Irak der Frage nach, wie stark der «Islamische Staat» dort noch ist. Hier eine Antwort.
Als 20 Minuten Anfang Juli im Irak ankommt, ist der «Islamische Staat» wieder Dauerthema. Ein Video zeigt die Hinrichtung irakischer Sicherheitskräfte. Sie sind von ISKämpfern bei einem FakeCheckpoint verschleppt worden. Angst vor Entführungen und Anschlägen macht sich schnell breit.
So gross ist sie, dass es auf der Autobahn, die die Ölstadt Kirkuk mit der Hauptstadt Bagdad verbindet, zwischenzeitlich kaum noch Verkehr gibt. Die Leute fliegen lieber. «Wir dachten, wir könnten uns wieder frei bewegen», sagt Rawand (30), der 2014 vor dem IS aus Kirkuk nach Erbil floh. «Aber die Regierung bekommt den IS nicht in den Griff.»
Auch in Syrien entsetzt derzeit ein Isvideo. Die Extremisten bieten darin an, 30 entführte Frauen und
Kinder freizulassen, wenn sie im Gegenzug in andere ISGEbiete abziehen können.
Zuvor haben sie in einer mehrheitlich von Drusen bewohnten Region im Süden des Landes ein Massaker mit über 250 Toten angerichtet, darunter in der Stadt Suweida. So sät der IS weiter Zwietracht im Bürgerkriegsland. Die Drusen beschuldigen jetzt das AssadRegime, absichtlich Iskämpfer in ihre Region geschleust zu haben, um sie für ihre neutrale Haltung im Bürgerkrieg abzustrafen.
Obwohl er 98 Prozent seiner eroberten Gebiete verloren hat, ist der IS in seinen beiden Kernländern auch nach vier Jahren nicht geschlagen. Im Zentralirak ist er in den Provinzen Diyala, Kirkuk und Salah addin so aktiv wie seit Monaten nicht mehr. Auch im Norden ist der Isterror nicht gebannt. General Najm Abdul lah aljubouri, Befehlshaber der Nineveh Operations, gibt zwar gegenüber 20 Minuten an, die Lage sei unter Kontrolle. Einen Tag später aber köpft der IS im Dorf Tal Khaymah den Bürgermeister und dessen Söhne.
In Syrien halten die ISKämpfer vor allem eine riesige Wüstenregion im Osten. In beiden Ländern kommt dem IS das hügelige, mitunter dicht bewachsene Gebiet zugute, aus dem er mit seinen GuerillaOperationen zuschlägt: schnelle Attentate, schnelle Rückzüge. Die Armee mit ihren schweren Gerätschaften hat das Nachsehen. Geisterstädte, aus denen die Bewohner einst vor dem IS flohen, bieten ideale Rückzugsmöglichkeiten. In anderen Dörfern unterstützen Bewohner den IS nicht selten gegen die verhassten schiitschen Milizen (Irak) respektive die verhassten Regimetruppen (Syrien).
Die Terroristen sind wendig, wissen jede Krise für sich zu nutzen: Als die Türkei ihre Offensive gegen das syrische Kurdengebiet Afrin startet und die kurdischen Volksverteidigungseinheiten abziehen, reorganisieren sich sofort neue Iszellen im Osten und Süden. «Wenn der IS von etwas profitiert, dann ist es politische In stabilität», sagt IslamismusExperte Guido Steinberg.
Viele Iskämpfer gibt es nicht mehr. Im Irak sollen es noch rund 3000 Mann sein. In Syrien verschanzen sich Tausende Kämpfer in der letzten Stadt unter vollständiger ISKontrolle: Hajin im mittleren Euphrattal. Auch Ischef Abu Bakr albaghdadi sowie europäische Isanhänger sollen sich hier verstecken.
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Hajin fällt. Dann hat der IS seinen letzten territorialen Besitz verloren – was verheerend ist für Symbolik und Legitimation dieser Terrormiliz, die sich doch ein riesiges «Kalifat» auf die schwarzen Fahnen schreibt.
Dennoch gehen Beobachter davon aus, dass der IS sich in Syrien und im Irak im Untergrund mittelfristig wird halten können. Seine Zeit als quasistaatliche Organisation, die so stark ist, dass sie ganze Gebiete einnehmen kann, dürfte aber endgültig vorbei sein.
Dennoch fürchten irakische und syrische Sicherheitskräfte, dass sich die zerstörerische Isideologie noch lange wird halten können. «Der IS ist lediglich militärisch zu besie gen. Seine Ideologie aber findet immer Anhänger», sagten sie zu 20 Minuten.
Eine Angst, die sich hoffentlich nicht bewahrheiten wird. «Ich denke, dass der IS im Vergleich zu anderen jihadistischen Gruppierungen langfristig weiter an Attraktivität und Glaubwürdigkeit verlieren wird», sagt Terrorismusexperte Roland Popp. «Einfach weil seine Ideologie mit der vollständigen Niederlage und dem Verlust seines ‹Staates› behaftet ist. Das bedeutet nicht nur für Extremisten: Gott war nicht mit dem IS.»
«Wir dachten, wir könnten uns wieder frei bewegen. Aber die Regierung bekommt den IS nicht in den Griff.» Rawand (30), der 2014 vor dem IS aus Kirkuk floh.