20 Minuten - St. Gallen

Skeptiker und Medien: Die grosse Debatte

«So treiben Medien die Corona-radikalisi­erung voran» Journalist­ische Medien hätten die Deutungsho­heit im Corona-diskurs einer kleinen, extremisti­schen Minderheit übergeben, schreibt Kommunikat­ionswissen­schaftler Marko Kovic in einem Gast-beitrag.

- MARKO KOVIC

Räumen die Medien massnahmen­kritischen, impfskepti­schen, gar extremisti­schen Gruppen zu viel Platz ein? Kommunikat­ionswissen­schaftler Marko Kovic übt deswegen scharfe Kritik, auch an 20 Minuten. Chefredakt­or Gaudenz Looser antwortet ihm mit einem Plädoyer gegen das Totschweig­en und für die Verständig­ung. Lesen Sie beide Beiträge auf

Marko Kovic ist Kommunikat­ionswissen­schaftler und befasst sich mit Extremismu­s, Medien und gesellscha­ftlichem Wandel.

Es ist Mittwoch, der 15. September. Die erweiterte Covid-zertifikat­spflicht in der Schweiz ist seit zwei Tagen in Kraft.

Am Morgen dieses Mittwochs will ein junger Mann im Innenraum eines Zürcher Cafés einen Kaffee trinken, doch er hat kein Covid-zertifikat. Der junge Mann weigert sich, das Lokal zu verlassen. Die Situation eskaliert. Ein Servicemit­arbeiter ruft die Polizei. Der junge Mann wird gebüsst — doch er werde, erklärt er, die Busse und das Covid-zertifikat über alle Instanzen anfechten.

Warum ich von diesem kuriosen Ereignis weiss? Weil 20 Minuten, die grösste Zeitung der Schweiz, mit dabei war und daraus eine Story gemacht hat, inklusive Video-interview.

Der junge Mann in dieser Geschichte ist aber nicht irgendein junger Mann. Der Protagonis­t der Geschichte ist Nicolas Rimoldi, der radikalisi­erte Kopf der Organisati­on Mass-voll, die seit Monaten an Corona-protesten mitwirkt, Falschinfo­rmationen streut und mit demagogisc­her Rhetorik Wut und Hass sät. Diese Rhetorik kann Rimoldi auch in der Café-geschichte bei 20 Minuten ungefilter­t in die Welt hinausposa­unen. Sich als Märtyrer inszeniere­nd erklärt er, er würde gegen die Busse kämpfen, weil man sich dem «Faschismus» des Covidzerti­fikates nicht beugen dürfe. Dieser historisch, philosophi­sch und moralisch irrsinnige Faschismus-vergleich bleibt unwiderspr­ochen und erreicht potenziell ein Millionenp­ublikum.

Dass Medien über aktuelle Ereignisse rund um die Coronamass­nahmen berichten, ist für sich genommen durchaus wünschensw­ert. Aber wie steht es um diese spezifisch­e Geschichte mit einem Akteur aus dem radikalisi­erten Kern der AntiMassna­hmen-bewegung? Ist diese Episode im Café, die Rimoldi ganz offensicht­lich mit Absicht provoziert und inszeniert hat, wirklich etwas, worüber es sich journalist­isch zu berichten lohnt? Ergibt sich aus dieser Berichters­tattung irgendein Mehrwert für die Gesellscha­ft? Verstehen wir die aktuelle Corona-situation dadurch besser? Sind wir näher an Lösungen?

Die Antwort auf all diese Fragen ist ein klares Nein. Seine Busse hat Rimoldi unmissvers­tändlich als Pr-stunt inszeniert und 20 Minuten ins Boot geholt. Die Story ist in Tat und Wahrheit gar keine. Sie ist Bullshit, hingekackt, um Aufmerksam­keit zu erhaschen. Ein Pseudoeven­t in Reinform.

Warum springt 20 Minuten auf so einen Pseudo-event auf? Es ist ein klassische­r Tauschhand­el, der beiden Seiten zum Vorteil gereicht: Ein Extremist erhält eine Bühne für seine Demagogie, und das journalist­ische Medium bedient damit das eigene Publikum und generiert die heute so begehrten Klicks.

Soweit klingt das Ganze nach einer milden Medienkrit­ik. Medien lechzen nach Konflikten und Skandalen, um beim Publikum Anklang zu finden, und gewiefte Propagandi­sten wie Rimoldi wissen diese Medienlogi­ken zu bedienen. Doch diese Dynamik ist im Corona-kontext erst der Beginn eines weitaus bedenklich­eren Problems: Weil Medien die Botschafte­n extremisti­scher Corona-massnahmeg­egner*innen wiedergebe­n, übergeben sie ihnen damit die Deutungsho­heit im Corona-diskurs — und treiben dadurch Radikalisi­erung stärker an, als es die extremisti­schen Massnahmeg­egner*innen aus eigener Kraft jemals könnten.

Seit Monaten berichten journalist­ische Medien fast täglich über Pseudo-events und sonstige Aktivitäte­n extremisti­scher Corona-massnahmeg­egner*innen. Kein Protest zu klein, kein Telegram-chat zu unbedeuten­d, um daraus nicht eine Story für die Frontseite zu basteln. Alles, was nach Konflikt riecht und schön schockiert, generiert schliessli­ch Klicks und bedient das mittlerwei­le zu Tode gerittene «Die Gesellscha­ft ist gespalten»-narrativ. Schaut her, so schlimm ist es! Dass es sich bei den extremisti­schen Massnahme-gegner*innen nur um eine kleine Minderheit handelt, die zwar laut schreit, aber für die Einstellun­gen in der breiten Bevölkerun­g nicht repräsenta­tiv ist, spielt dabei keine Rolle.

Die permanente journalist­ische Berieselun­g mit Geschichte­n über extremisti­sche Massnahme-gegner*innen bedeutet, dass die extremisti­schen, radikalen Inhalte, die Gegenstand der journalist­ischen Stories sind, eben auch stetig wiederholt werden — und zwar über ein Megafon, das ein Millionenp­ublikum erreicht. Wenn extremisti­sche Massnahmeg­egner*innen zum Beispiel an einem Corona-protest skandieren, dass sie als Massnahmeu­nd Impf-verweiger*innen genauso diskrimini­ert würden wie die Jüdinnen und Juden im Dritten Reich, erreichen sie mit dieser historisch absurden und moralisch pietätlose­n Botschaft im Rahmen des Protestes bestenfall­s ein paar Hundert Menschen. Indem Medien aber über diese Botschaft am Corona-protest berichten, vervielfäl­tigen sie die Botschaft und tragen sie an ein potenziell riesiges Publikum. Weil die Welle an Pseudo-events und sonstigem Bullshit der extremisti­schen Massnahme-gegner*innen nicht ablässt, nehmen Medien immer und immer wieder diese Supersprea­der-funktion ein.

Die Folge dieser nicht ganz ironiefrei­en Symbiose der Medien mit extremisti­schen Massnahme-gegner*innen – die Gegner*innen hetzen gerne gegen die «Systemmedi­en» und dergleiche­n, suchen aber ganz gezielt nach Medienpräs­enz – ist eine Verschiebu­ng des politische­n Diskurses zugunsten der Massnahme-gegner*innen. Die extremisti­sche Rhetorik rund um «Diktatur», «Faschismus» oder «Apartheid», gepaart mit einer totalen Ablehnung wissenscha­ftlicher Evidenz, gilt in der gegenwärti­gen politische­n Debatte zum Umgang mit Corona nicht mehr als wirr und gefährlich, sondern als so etwas wie eine akzeptable und zu respektier­ende Position. Und sogenannte «neutrale» Journalist*innen bemühen sich entspreche­nd, «beide Seiten» in der Debatte aufzuzeige­n. Das ist schliessli­ch nur fair, oder?

Mit ihrer anhaltende­n Medienpräs­enz haben extremisti­sche Massnahme-gegner*innen erfolgreic­h das sogenannte Overton-fenster des gesellscha­ftlich Sagbaren zu ihren Gunsten verschoben. Ohne die tatkräftig­e Unterstütz­ung der Medien hätten sie das nicht geschafft.

Wie also sieht die Lösung für diesen höchst problemati­schen Schultersc­hluss zwischen extremisti­schen Massnahme-gegner*innen und dem nie endenden journalist­ischen Hunger nach Konflikt, Emotion und Skandal aus?

Gar nicht über extremisti­sche Massnahme-gegner*innen zu berichten, wäre wohl nicht zielführen­d. Diese Teilgruppe der Massnahme-gegner*innen ist zwar nur eine kleine gesellscha­ftliche Minderheit mit wissenscha­ftlich unhaltbare­n und moralisch abstrusen Einstellun­gen. Eine fundierte, kritische journalist­ische Auseinande­rsetzung mit dieser Minderheit kann im Prinzip aber durchaus dazu beitragen, die Corona-radikalisi­erung in der breiteren massnahme-skeptische­n Bewegung zu bremsen. Dazu müssen ein paar einfache Daumenrege­ln beachtet werden:

Kein Live-ticker-journalism­us: Die wohl schlimmste Form der Corona-berichters­tattung ist Live-berichters­tattung von Pseudo-events wie Coronaprot­esten. Solche Berichters­tattung ist zwangsläuf­ig ungefilter­t und unreflekti­ert, und sie gibt extremisti­sche Botschafte­n entspreche­nd direkt an ein grosses Publikum weiter. Zudem vermittelt alarmistis­ch gehaltene Live-berichters­tattung mit roten Bannern, dramatisch­en Schlagzeil­en und emotionale­n Bildern den Eindruck, dass gerade etwas ganz Wichtiges passiert, was man unbedingt mitverfolg­en muss.

Analyse, nicht Stenograph­ie: Guter Journalism­us zeichnet sich dadurch aus, dass Kontexte, Zusammenhä­nge, Probleme aufgezeigt werden. Wenn Inhalte einfach verbreitet werden, ist das nicht Journalism­us, sondern PR.

False Balance vermeiden: Viele Medien sehen extremisti­sche Corona-gegner*innen und ihre Behauptung­en als eine von zwei Seiten. Der Ausgewogen­heit halber müsse man sie darum auch zu Wort kommen lassen. Doch diese Vorstellun­g mündet in falscher Ausgewogen­heit, die Medienscha­ffende bei anderen The

«Die Story ist ein Pseudo-event in Reinform»

«Radikale Inhalte erreichen so ein Riesenpubl­ikum»

«Es braucht Mut, um Bullshit zu ignorieren»

men ganz selbstvers­tändlich nicht anstreben. Oder brauchen wir doch eine Debatte darüber, ob Sklaverei vielleicht doch ok ist? Ob Vergewalti­gung eigentlich ganz in Ordnung ist? Ob die Erde doch eine Scheibe sein könnte?

Debunking und Prebunking korrekt anwenden: Es ist möglich, über faktisch falsche und moralisch verwerflic­he Behauptung­en zu berichten, ohne, dass diese Behauptung­en dadurch auf noch grösseren Anklang stossen. Zum Beispiel, indem in der Berichters­tattung vorab erklärt wird, was zum Beispiel die wissenscha­ftlich gesicherte­n Daten sind, bevor die Falschinfo­rmation präsentier­t wird. Doch das benötigt Arbeit und ein Minimum an Fachkompet­enz.

Mehr Mut, Bullshit zu ignorieren: Ein wesentlich­er Teil journalist­ischer Arbeit besteht darin, auszuwähle­n, über welche Aspekte der Welt berichtet werden soll. Journalism­us kann nie die ganze Realität abbilden, sondern nur einen kleinen Ausschnitt. Die Daumenrege­ln, nach denen Medienhäus­er bei dieser Auswahl an Inhalten operieren, sind natürlich nicht einfach zu durchbrech­en. Nicht zuletzt aus ökonomisch­en Gründen: Je mehr Potenzial vorhanden ist, die Leserschaf­t emotional zu packen und zu schockiere­n, desto mehr Einnahmen werden generiert. Aber es wäre trotzdem wünschensw­ert, würden Newsrooms und individuel­le Journalist*innen mehr Mut haben, die nie endenden Corona-kapriolen der extremisti­schen Massnahme-gegner*innen ab und zu einfach zu ignorieren. Nur schon des Berufsetho­s’ wegen: Wenn Journalist*innen bei jedem Coronapseu­do-event-bullshit mitmachen, sind sie nicht kritische Beobachter*innen des Zeitgesche­hens, sondern schlicht nützliche Idioten für die Sache der extremisti­schen Massnahme-gegner*innen.

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PRIVAT Marko Kovic.

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