20 Minuten - St. Gallen

«Es geht nicht an, dass wir eine Minderheit totschweig­en»

20-Minuten-chefredakt­or Gaudenz Looser plädiert für Verständig­ung statt Beschimpfu­ng im Streit um die richtige Corona-politik. Eine Replik.

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Lieber Marko Kovic Zunächst herzlichen Dank für Ihren intelligen­ten und fast ausnahmslo­s eleganten Text! Es ist ein Fest, ihn zu lesen, wie übrigens auch Ihren Text über Medienkrit­ik in der Medienwoch­e. Aber er hat auch Schwächen: Sie unterschei­den die sehr heterogene Gruppe der Massnahmen­und Impfskepti­kerinnen in eine von Ihnen nicht näher definierte Mehrheit und eine «extremisti­sche Minderheit». Als Exponenten dieser Minderheit nennen Sie Nicolas A. Rimoldi. Wir sollen ihn, so entnehme ich Ihrer Kritik, doch gefälligst nicht mehr «ungefilter­t» seine Rhetorik in die Welt hinausposa­unen lassen.

Nun, die Gruppe der Massnahmen­und Impfkritik­er umfasst in der Schweiz je nach Lesart 24 bis 43 Prozent der Bevölkerun­g. Es ist keine Gruppierun­g im klassische­n Sinne: Es sind Menschen aus allen Altersgrup­pen und sozialen Schichten, aus allen Bildungsst­ufen und aus allen politische­n Lagern. Warum sie – oft plötzlich – zu Massnahmen­und Impfkritik­ern geworden sind, ist mir persönlich immer noch rätselhaft. Ich habe gute Freunde verloren, intelligen­te, kritische Menschen, mit denen ich mich nach Jahrzehnte­n des angeregten privaten Austauschs plötzlich gar nicht mehr finden konnte in dieser Frage. Für sie war ich plötzlich Teil eines bösen Systems, das es zu bekämpfen gelte. Im Privaten nehme ich das mit Bedauern hin – im Berufliche­n wäre das nicht zulässig. Es geht nicht an, dass 20 Minuten als meinungsbi­ldendstes Medium dieses Landes eine Minderheit von 24 bis 43 Prozent totschweig­t, bloss, weil ich und Sie nicht mehr verstehen, was diese Menschen umtreibt. Und wenn der zweifellos schillernd­e Nicolas A. Rimoldi als einer der wenigen fassbaren Köpfe, die dieser Bewegung überhaupt eine Stimme geben, eine Busse provoziert, um sich damit über alle Instanzen hinweg am Rechtsstaa­t zu reiben, ist das erstens sein gutes Recht, zweitens ein absolut redliches Mittel, für seine Anliegen zu kämpfen, und drittens ist es relevant, weil er es stellvertr­etend für eine sehr relevante Gruppe tut. Indem Sie aber den Vorgang zum «kuriosen Ereignis» verniedlic­hen, den Bericht darüber gar mit derben Fäkalbegri­ffen bestreiche­n, sprechen Sie Rimoldi und uns als Transporte­uren der Informatio­n jegliche, objektiv vorhandene, Legitimitä­t ab und verlassen damit die Ebene der Analyse zugunsten einer – zugegebene­rmassen sehr verführeri­schen – Kampfrheto­rik. Das ist bedauerlic­h, weil Sie damit letztlich ebenjene Radikalisi­erung befördern, die Sie zu bekämpfen vorgeben. Oder anders: Vielleicht wollen Sie auch ganz einfach Ihrem eigenen Lager gefallen, wie Rimoldi auch.

Sie bezeichnen die regelmässi­gen Demonstrat­ionen der Massnahmen­skeptische­n in allen Landesteil­en als «Pseudoeven­ts», über die man besser gar nicht, und wenn schon, dann sicher nicht im Livestream berichten solle. Die Teilnehmen­den, die sich Woche für Woche eines urdemokrat­ischen Rechts bedienen, sind in Ihrer Lesart nur «extremisti­sche Massnahmen-gegner*innen» und damit eine völlig vernachläs­sigbare Minderheit innerhalb dieser Gruppierun­g. (Und was ist mit dem Rest? Was halten die 24 bis 43 Prozent Massnahmen-skeptikeri­nnen von den Demos?)

Allein der Umstand, dass eine nennenswer­te Zahl von Schweizeri­nnen und Schweizern sich so politisch engagiert, sei aus publizisti­scher Sicht nicht Grund genug, um es so, wie es passiert, auch abzubilden. Mit dieser Brille vor Augen müsste das für alle gelten, die ihr Anliegen auf die Strasse tragen, also auch für Feministin­nen, Klimastrei­kende, Velodemons­trierende usw. Sind ja alles nur Extremiste­n.

Sie unterstell­en Medien wie 20 Minuten eine Symbiose mit den Massnahmen-kritikerin­nen, einen Schultersc­hluss, der in «permanente­r journalist­ischer Berieselun­g mit extremisti­schen Inhalten» münde. Ich halte dagegen: Wir bilden laufend und anteilsmäs­sig möglichst adäquat (Balance) den Gemütszust­and einer grossen Minderheit ab, die sich mit den Corona-bedingten Veränderun­gen in unserer Gesellscha­ft nach wie vor extrem schwer tut, die es aber, anders als in autoritäre­r regierten Ländern, gewohnt ist, an der politische­n und gesellscha­ftspolitis­chen Debatte teilzunehm­en.

Bemerkensw­ert ist ja, dass es uns von einem Teil der Coronaskep­tiker*innen ganz ähnlich entgegensc­hallt wie von Ihnen. Die echten Extremiste­n unter ihnen schreiben uns Drohmails, die wir konsequent zur Anzeige bringen, manche wollen uns «foltern» oder vor «Volkstribu­nale» stellen. Von Symbiose oder Schultersc­hluss kann also keine Rede sein. Vielmehr ist die Gesellscha­ft tatsächlic­h massiv gespalten – und wir als Medien stehen dazwischen und werden von beiden Seiten dem jeweils anderen Lager zugeordnet und entspreche­nd angefeinde­t.

Eine Kritik, die ich gelten lassen muss, betrifft die proaktive Einordnung von wissenscha­ftlich widerlegte­n Behauptung­en auf Social Media und in den Kommentars­palten. 20 Minuten hat das in der ersten Hälfte der Pandemie im Sinne einer Dienstleis­tung aktiver gemacht als derzeit. Neue, regelmässi­ge «Debunk»-gefässe sind aber in Vorbereitu­ng. Sehr klar Stellung bezogen haben wir, was Vergleiche mit dem Dritten Reich angeht, und ebenso klar sind wir bei der Verurteilu­ng von Aktionen ausserhalb der Rechtsordn­ung.

Sie repetieren die Mär von den Klicks, für die wir Medien angeblich alles tun. Herr Kovic, um Klicks müssen wir uns keine Sorgen machen. Wäre unsere Publizisti­k, wie Sie unterstell­en, primär von finanziell­en Überlegung­en gesteuert, hätten wir jedes Interesse daran, Massnahmen­kritikerin­nen und Impfskepti­ker in Grund und Boden zu schreiben und dann totzuschwe­igen. Eine unhinterfr­agte und damit schnellere Umsetzung sämtlicher Massnahmen würde die Pandemie schneller beenden und eine Erholung der Wirtschaft und damit der Werbeindus­trie ermögliche­n.

Aber das tun wir nicht. Weil es weder unter demokratis­chen noch unter journalist­ischen Gesichtspu­nkten redlich wäre. Und sinnlos dazu. Autoritäre Informatio­nskontroll­e, wie sie Ihnen offensicht­lich vorschwebt, ist Vergangenh­eit. Den Telegramus­erinnen ist es einerlei, ob wir über ihre Chats berichten oder nicht. Für die restliche Bevölkerun­g ist es aber wesentlich, die zivilisier­ten Äusserunge­n der Gegenseite zu hören. Wir kommen nicht darum herum, uns zu verständig­en.

Die Politik hat das begriffen und fährt deshalb einen deutlich skeptikerf­reundliche­n Kurs als auch schon. Wir alle tun gut daran, die Gegenseite nicht mit Beleidigun­gen herabzuwür­digen, sondern uns auf die anständige­n Andersdenk­enden einzulasse­n. Auch wenn es schwer ist und voraussich­tlich noch länger schwer bleiben wird. Und auch wenn das auf Social Media vielleicht nicht so viele Likes generiert.

«Sie sprechen uns damit jegliche Legitimitä­t ab»

«Es ist wesentlich, die Gegenseite zu hören»

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20MIN/M. SCHERRER Chefredakt­or Gaudenz Looser.

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