Neue Zürcher Zeitung Sunday (V)
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John Sinclair, Hippie, Dichter und Hanfpapst, der wegen zwei Joints zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde, ist 82-jährig gestorben
Die Wohngemeinschaft erregte das Misstrauen der Behörden, «aber es war gar nicht so einfach, eine richtige Hippie-kommune wie unsere zu infiltrieren», schrieb John Sinclair, «weil man mit allen schlafen musste.» Sonntagnachmittags aber lud die WG in Ann Arbor jeweils zu einem Open House, man ass, schwatzte, musizierte, las Gedichte und kiffte. Eine junge Frau bat Sinclair um einen Joint. Er gab ihr zwei, «weil Weihnachten war». Ein Fehler. Die Hippiefrau war eine Zivilpolizistin, und Sinclair wurde 1969 wegen Besitz von Marihuana verurteilt, und zwar zur Höchststrafe, die das Gesetz in Michigan vorsah: zehn Jahre Gefängnis. Der Fall sorgte landesweit für Schlagzeilen, es entstand eine mächtige Solidaritätsbewegung. Schliesslich gab es eine Gesetzesreform in Michigan. Aber immerhin zwei Jahre lang sass Sinclair im Gefängnis.
Fast dreissig Jahre später legalisierte Michigan das Marihuana, und der 77-jährige Sinclair war einer der ersten Kunden in der Schlange vor der Verkaufsstelle, wie eine Lokalzeitung berichtete. «Na, John», sagte ein Passant zu Sinclair, «der Kreis schliesst sich endlich, nicht wahr?» Dieser erwiderte: «Er schlösse sich noch etwas mehr, wenn sie mir auch das Gras zurückgäben, das sie mir in all den Jahren weggenommen haben.»
Geboren wird John Sinclair 1941 in Flint, wo er mit zwei Geschwistern aufwächst. Der Vater arbeitet bei Buick Motors, die Mutter ist Lehrerin. John besucht das Flint College, wo er in englischer Literatur abschliesst. Er schreibt Gedichte und macht bei der Studentenzeitung mit. Von da führt der Weg zur links-anarchistischen Zeitung «Fifth Estate». Sie gehört zu den Untergrundzeitungen, die damals in den USA wie Pilze aus dem Boden schiessen und über ein ausgeklügeltes Austauschsystem verbunden sind. Es ist eine Art Internet mit Vervielfältigungsapparat. Sinclair wird mit seinem Sendungsbewusstsein zu dessen Influencer, er ist Dichter, Agitator, Revolutionär und Anarchist im Umfeld des Kollektivs Detroit
Artists Workshop. Und er profiliert sich als Hanfpapst und Musikkenner.
Als Manager soll er nicht nur die Karriere von Iggy Pop angeschoben haben, er ist auch der Macher hinter der Band MC5, die in eingeweihten Kreisen einen Ruf als eine Art Ur-punk-band geniesst. Sinclair inszeniert sie immer mehr als Hausband für seine politischen Projekte. Ihr Album «Kick Out the Jams, Motherfucker» wird zum Bestseller, obwohl die Radiostationen es wegen des letzten Worts im Titel boykottieren. Sinclairs revolutionäre Ideen führen dann aber zum Bruch mit der Band. Er ruft ihnen wütend nach: «Ihr wolltet grösser sein als die Beatles? Ich wollte, dass ihr grösser werdet als Mao!»
Sinclair wird zum Berufsrevolutionär bei der White Panther Party. Er gründet sie 1968, als ein Aktivist der Black Panther sagt, Weisse könnten den Kampf der Schwarzen am besten als Weisse Panther unterstützen. Musik und Drogen, vor allem Haschisch und LSD, sind für Sinclair das Mittel der Wahl, um die kulturelle Revolution und «den totalen Angriff gegen Rassisten, Kapitalisten und die Kriminalisierung von Marihuana» zu führen. Das Parteiprogramm ist kurz: Die Abschaffung des Geldes gehört dazu, ebenso der Armee, aller Gefängnisse und jeder Führung. Essen, Wohnen, Kleider und Dope sollen gratis werden. Ein schwarzer Panther nennt die weissen Unterstützer einmal «psychedelische Clowns». 1971 lösen sie sich auf.
Seit 1965 ist Sinclair mit der aus der DDR ausgewanderten Magdalena Arndt verheiratet, die als Fotografin Leni Sinclair berühmt wird. Mit ihr hat er zwei Töchter und mit ihr ist er bis 1977 zusammen. Leni Sinclair organisiert auch die Kampagne für seine Freilassung, während er wegen der zwei Joints im Gefängnis sitzt. Sie gipfelt in einem grossen Konzert mit über 15 000 Leuten im Dezember 1971 in Ann Arbor. Bob Seger tritt auf, der Dichter Allen Ginsberg. John Lennon gibt zusammen mit Yoko Ono den für Sinclair komponierten Song («Won’t you care for John Sinclair? In the stir for breathin’ air») zum Besten. Nach Lennons Zusage meldet sich auch Stevie Wonder für einen Auftritt. Im Laufe des Abends telefoniert Leni Sinclair mit ihrem Mann im Gefängnis. Der herzzerreissende Dialog mit seiner 4-jährigen Tochter wird live am Konzert übertragen. Tage später wird Sinclair entlassen – wegen der Gesetzesänderung, nicht wegen des Happenings.
Er zieht nach Amsterdam, wo man Marihuana damals etwas anders einschätzt. Sinclair ist eine Zeitlang DJ beim Radio Free Amsterdam. Zurück in Detroit, führt er ein Leben als Aktivist, Dichter und als lebendes Denkmal für die Haschischlegalisierung. Jedes Jahr nimmt er an der sogenannten Hash Bash Rally teil, einem Anlass, der für die Legalisierung von Cannabis wirbt und den er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 1972 ins Leben gerufen hat. Das Happening findet bis heute statt, zuletzt am vergangenen 6. April, vier Tage nach Sinclairs Tod. Es ist zu einem Gedenkanlass für ihn geworden.