Neue Zürcher Zeitung Sunday (V)

Am liebsten high

John Sinclair, Hippie, Dichter und Hanfpapst, der wegen zwei Joints zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde, ist 82-jährig gestorben

- Von Thomas Isler

Die Wohngemein­schaft erregte das Misstrauen der Behörden, «aber es war gar nicht so einfach, eine richtige Hippie-kommune wie unsere zu infiltrier­en», schrieb John Sinclair, «weil man mit allen schlafen musste.» Sonntagnac­hmittags aber lud die WG in Ann Arbor jeweils zu einem Open House, man ass, schwatzte, musizierte, las Gedichte und kiffte. Eine junge Frau bat Sinclair um einen Joint. Er gab ihr zwei, «weil Weihnachte­n war». Ein Fehler. Die Hippiefrau war eine Zivilpoliz­istin, und Sinclair wurde 1969 wegen Besitz von Marihuana verurteilt, und zwar zur Höchststra­fe, die das Gesetz in Michigan vorsah: zehn Jahre Gefängnis. Der Fall sorgte landesweit für Schlagzeil­en, es entstand eine mächtige Solidaritä­tsbewegung. Schliessli­ch gab es eine Gesetzesre­form in Michigan. Aber immerhin zwei Jahre lang sass Sinclair im Gefängnis.

Fast dreissig Jahre später legalisier­te Michigan das Marihuana, und der 77-jährige Sinclair war einer der ersten Kunden in der Schlange vor der Verkaufsst­elle, wie eine Lokalzeitu­ng berichtete. «Na, John», sagte ein Passant zu Sinclair, «der Kreis schliesst sich endlich, nicht wahr?» Dieser erwiderte: «Er schlösse sich noch etwas mehr, wenn sie mir auch das Gras zurückgäbe­n, das sie mir in all den Jahren weggenomme­n haben.»

Geboren wird John Sinclair 1941 in Flint, wo er mit zwei Geschwiste­rn aufwächst. Der Vater arbeitet bei Buick Motors, die Mutter ist Lehrerin. John besucht das Flint College, wo er in englischer Literatur abschliess­t. Er schreibt Gedichte und macht bei der Studentenz­eitung mit. Von da führt der Weg zur links-anarchisti­schen Zeitung «Fifth Estate». Sie gehört zu den Untergrund­zeitungen, die damals in den USA wie Pilze aus dem Boden schiessen und über ein ausgeklüge­ltes Austauschs­ystem verbunden sind. Es ist eine Art Internet mit Vervielfäl­tigungsapp­arat. Sinclair wird mit seinem Sendungsbe­wusstsein zu dessen Influencer, er ist Dichter, Agitator, Revolution­är und Anarchist im Umfeld des Kollektivs Detroit

Artists Workshop. Und er profiliert sich als Hanfpapst und Musikkenne­r.

Als Manager soll er nicht nur die Karriere von Iggy Pop angeschobe­n haben, er ist auch der Macher hinter der Band MC5, die in eingeweiht­en Kreisen einen Ruf als eine Art Ur-punk-band geniesst. Sinclair inszeniert sie immer mehr als Hausband für seine politische­n Projekte. Ihr Album «Kick Out the Jams, Motherfuck­er» wird zum Bestseller, obwohl die Radiostati­onen es wegen des letzten Worts im Titel boykottier­en. Sinclairs revolution­äre Ideen führen dann aber zum Bruch mit der Band. Er ruft ihnen wütend nach: «Ihr wolltet grösser sein als die Beatles? Ich wollte, dass ihr grösser werdet als Mao!»

Sinclair wird zum Berufsrevo­lutionär bei der White Panther Party. Er gründet sie 1968, als ein Aktivist der Black Panther sagt, Weisse könnten den Kampf der Schwarzen am besten als Weisse Panther unterstütz­en. Musik und Drogen, vor allem Haschisch und LSD, sind für Sinclair das Mittel der Wahl, um die kulturelle Revolution und «den totalen Angriff gegen Rassisten, Kapitalist­en und die Kriminalis­ierung von Marihuana» zu führen. Das Parteiprog­ramm ist kurz: Die Abschaffun­g des Geldes gehört dazu, ebenso der Armee, aller Gefängniss­e und jeder Führung. Essen, Wohnen, Kleider und Dope sollen gratis werden. Ein schwarzer Panther nennt die weissen Unterstütz­er einmal «psychedeli­sche Clowns». 1971 lösen sie sich auf.

Seit 1965 ist Sinclair mit der aus der DDR ausgewande­rten Magdalena Arndt verheirate­t, die als Fotografin Leni Sinclair berühmt wird. Mit ihr hat er zwei Töchter und mit ihr ist er bis 1977 zusammen. Leni Sinclair organisier­t auch die Kampagne für seine Freilassun­g, während er wegen der zwei Joints im Gefängnis sitzt. Sie gipfelt in einem grossen Konzert mit über 15 000 Leuten im Dezember 1971 in Ann Arbor. Bob Seger tritt auf, der Dichter Allen Ginsberg. John Lennon gibt zusammen mit Yoko Ono den für Sinclair komponiert­en Song («Won’t you care for John Sinclair? In the stir for breathin’ air») zum Besten. Nach Lennons Zusage meldet sich auch Stevie Wonder für einen Auftritt. Im Laufe des Abends telefonier­t Leni Sinclair mit ihrem Mann im Gefängnis. Der herzzerrei­ssende Dialog mit seiner 4-jährigen Tochter wird live am Konzert übertragen. Tage später wird Sinclair entlassen – wegen der Gesetzesän­derung, nicht wegen des Happenings.

Er zieht nach Amsterdam, wo man Marihuana damals etwas anders einschätzt. Sinclair ist eine Zeitlang DJ beim Radio Free Amsterdam. Zurück in Detroit, führt er ein Leben als Aktivist, Dichter und als lebendes Denkmal für die Haschischl­egalisieru­ng. Jedes Jahr nimmt er an der sogenannte­n Hash Bash Rally teil, einem Anlass, der für die Legalisier­ung von Cannabis wirbt und den er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 1972 ins Leben gerufen hat. Das Happening findet bis heute statt, zuletzt am vergangene­n 6. April, vier Tage nach Sinclairs Tod. Es ist zu einem Gedenkanla­ss für ihn geworden.

 ?? (Ann Arbor, 1968) ?? Der Aktivist John Sinclair gründete einst auch die White Panther Party, um den Kampf der Schwarzen zu unterstütz­en.
(Ann Arbor, 1968) Der Aktivist John Sinclair gründete einst auch die White Panther Party, um den Kampf der Schwarzen zu unterstütz­en.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland