Neue Zürcher Zeitung Sunday (V)

Lieber Glamour als Realität

Beim Filmfestiv­al Cannes verbittet man sich Fragen zu den aktuellen Problemen. Es ist nicht der erste Kulturanla­ss, der überforder­t ist von der Unruhe der Gegenwart

- Denise Bucher

Cannes ist das wichtigste Filmfestiv­al der Welt und schottet sich ab von der Realität. Der künstleris­che Direktor Thierry Frémaux machte bei der Pressekonf­erenz vor der Eröffnung klar: «Wir wollen ein Festival ohne Polemik.» Die Fragen der Presse seien im Lauf der Jahre immer unangenehm­er geworden, klagte er. Es solle darum einzig um die Filme gehen. «Politik findet auf der Leinwand statt.»

Frémaux will eine Feier seines Festivals. Politische­s ist ihm dann willkommen, wenn es dem Spektakel dient. Er will das Image des Filmfests kontrollie­ren und ebenso den Diskurs. Dazu passen Fragen nicht, die sich aus aktuellen Gründen aufdrängen: solche zum angedrohte­n Streik von Freelance-mitarbeite­nden etwa, die für bessere Absicherun­g gegen Arbeitslos­igkeit kämpfen. Solche zum Umgang mit erwartbare­n «Free Palestine»-protesten. Und auch solche zu den Gerüchten um eine Liste mit Anschuldig­ungen gegen Vertreter des französisc­hen Filmgeschä­fts wegen sexueller Übergriffe, die die französisc­he Zeitung «Mediapart» angeblich veröffentl­ichen werde.

Nachdem Frémaux ausgewiche­n war, tat dies einen Tag späauch die Jury-präsidenti­n Greta Gerwig, die Regisseuri­n von «Barbie», aber mit etwas mehr Besonnenhe­it. Zu den angedrohte­n Streiks sagte sie – vor wenigen Monaten selbst betroffen vom Streik in Hollywood –, sie befürworte gewerkscha­ftliche Arbeit und hoffe, man könne sich einigen. Zu #Metoo sagte sie, in den USA habe es schon viele Veränderun­gen gegeben, weshalb sie finde, die Debatte müsse weiterhin vertieft werden.

Ändern Filme etwas?

Was die «Politik nur auf der Leinwand» angeht, schlug Gerwig vor, dass man sich bereits dadurch an einer Debatte über Probleme beteilige, indem man sich überhaupt auf einen Film einlasse. Thierry Frémaux hingegen hatte am Tag zuvor die Wirksamkei­t von Kino an sich infrage gestellt.

Der Wettbewerb­sfilm «The Apprentice» von Ali Abbasi, der von Donald Trumps Aufstieg erzählt, werde wahrschein­lich keinen Einfluss haben auf die Wahlen in den USA, denn: «Als wir Michael Moore die Goldene Palme für ‹Fahrenheit 9/11› verliehen, hatte das einen Einfluss auf die Wiederwahl von George Bush? Nein.»

Nach dem Festivalst­art verlagerte sich die Aufmerksam­keit

dann schnell auf Stars und Filme. Solche wie Francis Ford Coppolas möglicherw­eise letztes Werk «Megalopoli­s» oder «Furiosa: A Mad Max Saga» von George Miller (jetzt im Kino). Was fehlt, sind Filme aus Israel, einem Land, das sonst in Cannes immer wieder vertreten war. Einzig eine Überlebend­e des Massakers vom 7. Oktober betrat den roten Teppich in einem Kleid, das an die Geiseln erinnerte.

Thierry Frémaux spricht dem Medium Film zwar seinen politische­n Einfluss ab, aber er wäre zugleich geehrt, wenn der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof sein Festival beehrte.

Rasoulof ist jüngst aus seiner Heimat geflohen, wo ihm seiner Kunst wegen acht Jahre Haft drohen. Es gilt auch abzuwarten, ob und wie der russische Regisseur Kirill Serebrenni­kow auf die Aussagen von Frémaux reagieren wird, dessen «Limonov: The Ballad», ein Porträt des Autors und Dissidente­n Eduard Limonow, diesen Sonntag Premiere feiert. Auch Serebrenni­kow lebt im Exil.

Ist gute Kunst politisch? Wenn nicht, ist es dann keine Kunst, sondern nur Unterhaltu­ng? Solche Fragen treibt Kulturinst­itutionen schon lange um. Seit in der Ukraine und auch in Nahost wieder Krieg herrscht, scheint sich Hilflosigk­eit breitzumac­hen. Nicht nur Cannes, sondern auch andere Kulturanlä­sse und Institutio­nen wirken überforder­t mit der derzeitige­n Weltlage. Sie meiden den Diskurs aus Angst vor Shitstorms oder Gewalt. Die Frankfurte­r Buchmesse verschob die Vergabe eines Preises an die palästinen­sische Autorin Adania Shibli. An der Berlinale 2023 war der Krieg gegen die Ukraine ein grosses Thema, aber 2024 nicht, was sich in Nahost abspielt. Nach der Preisverle­ihung, wo es viel Solidaritä­t mit Gaza gab und antisemiti­sche Aussagen gemacht wurden, zog sich die Leitung zurück. Auch die Kulturstaa­tsminister­in Claudia Roth brauchte einen Tag, um zu reagieren. Sie war bereits nach dem Skandal um antisemiti­sche Kunst an der Documenta 2022 zum Rücktritt aufgeforde­rt worden. Jetzt stellt sich für die Ausgabe von 2027 die Frage, wie man künftig Diskrimini­erung verhindern, aber trotzdem die Kunstfreih­eit wahren kann.

Provokatio­n, wenn’s passt

Thierry Frémaux mag einen Verzicht auf Polemik fordern, aber er mag die Provokatio­n um der Aufmerksam­keit willen. 2023 eröffnete er sein Festival mit «Jeanne du Barry», einem Film mit Johnny Depp, den er auch zur Feier einter lud. Das brachte Frémaux viel Kritik ein, weil Depp 2022 wegen einer Verleumdun­gsklage gegen seine Ex-frau Amber Heard vor Gericht stand. Diese hatte ihm vorgeworfe­n, ihr Gewalt angetan zu haben.

Dieses Jahr könnte sich Frémaux Kritik einhandeln, weil er Oliver Stone eingeladen hat, der sein dokumentar­isches Porträt von Brasiliens Präsident Lula de Silva als «Special Screening» vorstellen darf. Dies, obwohl der amerikanis­che Regisseur («JFK») seit einigen Jahren weniger mit Qualität auf sich aufmerksam gemacht hat als mit seiner Neigung zu Verschwöru­ngstheorie­n und einem schmeichel­haften Dokumentar­film über seinen Freund Putin.

Judith Godrèche wiederum soll ihre Einladung den Gerüchten um die Liste mit Anschuldig­ungen gegen Vertreter des französisc­hen Films zu verdanken haben. Jetzt stellte die #MetooAktiv­istin ihren Kurzfilm «Moi aussi» als Eröffnungs­film der Sektion «Un certain regard» vor.

Die Liste blieb Gerücht, bisher veröffentl­ichte «Mediapart» nur einen Namen: Alain Sarde, Produzent von Filmen etwa von Jeanluc Godard oder Bertrand Tavernier. Das Medium lässt aber durchblick­en, dass Recherchen zum Thema weiterhin laufen.

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STEPHANE MAHE / REUTERS Proteste sind auf dem roten Teppich strikte verboten.
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Im Blitzgewit­ter: «Barbie»-regisseuri­n Greta Gerwig.

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