Neue Zürcher Zeitung Sunday (V)
Der Mann, der nichts vergessen wollte
Gordon Bell, der als Computeringenieur Vorstufen des PC entwickelte und an der totalen digitalen Erinnerung forschte, ist 89-jährig gestorben.
Vergessen ist so unheimlich wie heilsam. Wie viel Freiheit verschafft es uns,undwieviellebengehtdabei verloren? Diese Fragen trieben den Informatiker und Visionär Gordon Bell um. Als Ingenieur bereitete er den Weg für unsere kleinen, erschwinglichen Computer von heute. Er fragte sich, was die Technologie, an der er forschte, in unserem persönlichen Alltag bedeutete. Ein digitales Gedächtnis, so vfand er, würde Büros und Wohnungen entrümpeln und den Menschen die Bürde abnehmen, sich zu erinnern. An Einkaufszettel, erste Worte und letzte Worte, Partygespräche, Arbeitssitzungen, Arztbesuche, Gesichter, Namen, an alles. Unser digitales Selbst könnte die Zeiten überspringen: «Stellen Sie sich vor, Sie fragen Ihren Urgrossvater, was er an Ihrer Urgrossmutter am meisten liebte», schlug er vor.
Zwar gelte es gemeinhin als «achte Todsünde», alles behalten zu wollen, meint er in seinem Buch «Total Recall» über die «Revolution» des digitalen Gedächtnisses. In vordigitalen Zeiten habe es wohl Sinn ergeben, den «Estrich zu räumen und Zeug wegzuwerfen». Doch nun verschafften E-memories das Vergnügen, Dinge wegzuwerfen, ohne sie zu verlieren. Von den stets zugänglichen Daten versprach er sich positive Einflüsse auf die Arbeit und Gesundheit, auf Ausbildungen, den Alltag und das Nachleben. Erst digitalisierte er Bücher und Schriften, dann auch alles andere. Ein Terabyte Speicherplatz genüge, sagte er. Heute, in Zeiten von Big Data, kann das Vorhaben erstaunlich anmuten. Bell verstand es als Forschungsprojekt, nicht im Hinblick auf ein kommerzielles Produkt. Vielleicht war die Wirklichkeit schneller und hat seine Revolution erübrigt, vielleicht haben Smartphones und -watches, intelligente Autos und Social Media ihren Pionier bereits eingeholt.
Chester Gordon Bell wird 1934 in Kirksville, Missouri, geboren. Der Junge habe öfter «Warum?» gefragt als jeder andere, sagt seine Mutter, eine Lehrerin. Sein Vater installiert und repariert Elektrogeräte im eigenen
Betrieb. Als der 7-jährige Gordon wegen eines angeborenen Herzfehlers erkrankt und ein halbes Jahr das Bett hüten muss, tüftelt er an Schaltkreisen, experimentiert mit seinem Chemiebaukasten, sägt Puzzles. Wieder gesund, macht er sich im Betrieb des Vaters nützlich, mit 12 ist er professioneller Elektriker und will Ingenieur werden.
Er studiert am MIT, schliesst 1957 in Elektrotechnik ab und unterrichtet Informatik an der New South Wales University in Australien. Dort trifft er auf die Stadtplanerin Gwen Druyor, die beiden heiraten und haben zwei Kinder. Zurück in den USA beginnt er seine Dissertation am MIT, doch bricht er das Vorhaben bald ab, um bei der jungen Computerfirma Digital Equipment Corporation, DEC, in Massachusetts als Forscher einzusteigen.
DEC will kleinere und erschwinglichere Computer als die damaligen raumfüllenden Grossrechner einführen. Gordon Bell ist am Design des ersten sogenannten Minicomputers beteiligt, der kommerziellen Erfolg hat. Der PDP-8 ist ein früher Schritt hin zum Personalcomputer. Später trägt Bell zum leistungsfähigen kleinen Rechner VAX bei, ein weiterer Erfolg. DEC wird in den achtziger Jahren zum zweitgrössten Computerhersteller nach IBM.
1983 verlässt Bell das Unternehmen, doch initiiert er weiterhin Projekte, entwickelt Ideen. Er wird als eine etwas zerzauste Erscheinung beschrieben, seine Wörter hasten den Gedanken hinterher und lassen Sätze unbeendet, derweil Gestik und Bewegung seine Argumente unterstützen und eine Einsicht die nächste jagt. Er konnte aufbrausend sein. Inspirierend und charismatisch nennt ihn der Dec-gründer Ken Olsen, doch fremd in einer «organisierten» Umgebung.
Bell unterrichtet in der Zwischenzeit Informatik an der Carnegie-mellon-universität in Pittsburgh, mit seiner Frau Gwen gründet er das Computer History Museum in Boston. An der National Science Foundation entwickelt er einen Vorläufer des Internets, er zieht nach Kalifornien und wird leitender Wissenschafter der Forschungsabteilung von
Microsoft. In der Zeit startet er das Erinnerungsprojekt Mylifebits und digitalisiert sein Leben – so, stellt er sich vor, wie es bald jeder und jede selbstverständlich machen werde. Jahrelang trägt er eine Kamera um den Hals, die auf Wärme und Licht reagiert. Beim Lifelogging, so heisst das Speichern der persönlichen Gegenwart, hält er Unmengen Fotos und Dokumente fest, vom Brief zum Rezept zum Manual zur Kinderzeichnung. Sein Sohn findet das egozentrisch, doch Bell meint: «Ich bin nicht besonders interessant. Ich bin nur ein typisches Beispiel.»
Der «Frank Lloyd Wright der Computerarchitektur», wie man ihn nennt, weiss auch, wann es Zeit ist, ein Tech-projekt loszulassen. Bill Gates hält ihn für einen der «originellsten Köpfe» in der Branche. Mit Mylifebits habe er vieles in Bewegung gesetzt, auch die Art, wie wir über das Gedächtnis denken. Das Vergessen ist noch nicht Geschichte.