BEGEGNUNG MIT DEN LETZTEN KOPFJÄGERN
Sei auf der Hut, wenn du Nagaland betrittst! Die Dakoiten und separatistische, betrunkene Guerillakämpfer streifen zuhauf durch diese wilden Berge. Sei vorsichtig und setze nie des Nachts einen Fuss vor die Tür!» So lauten im Wesentlichen die Reaktionen, wenn man das Reiseziel im indischen Subkontinent, vor den Toren des Himalayas, erwähnt. Für viele Bewohner des Flachlands bleibt das Land der Nagas ein Grenzgebiet, das sich in atmosphärische wie kulturelle Nebelschwaden hüllt: ein Land der Barbaren. Auch für uns?
Erleben Sie das AnimanAbenteuer 2019
Was ist aus den berühmt-berüchtigten Nagas geworden, diesen Kriegern, die man noch bis vor wenigen Jahrzehnten für ihren Hang zur Kopfjagd fürchtete? Hinter dem Begriff Naga verbirgt sich ein reiches Mosaik aus dreissig Stämmen, deren Kultur auf Übergangs- und Fruchtbarkeitsriten, Tätowierungen, animistischer und megalithischer Symbolik sowie auf einer langen Tradition von Stammeskriegen basiert. Dieses grundsätzlich kohärente, aber im Erscheinungsbild disparate Volk legt eine verblüffende Diversität an den Tag und bringt es auf ungefähr zwei Millionen Seelen. Sie verteilen sich auf einem abgeschirmten, bergigen Gebiet zwischen zwei Ländern (Indien, Birma) und drei Bundesstaaten (Arunachal Pradesh, Manipur und Nagaland, wo sie mit 16 Stämmen die Mehrheit bilden) und unterteilen sich darüber hinaus in ein Dutzend Clans, darunter fünf Hauptgruppen und ebenso viele zum Teil sehr unterschiedliche tibetobirmanische Dialekte. Neben der unüberschaubaren Geographie trugen der Fortbestand der Gewalt unter den Stämmen sowie die paternalistische Amtsführung des britischen Raj umso mehr zu ihrer Isolation bei.
Bei den Nagas war es üblich, den Feinden die Köpfe (und die Hände) abzutrennen und diese Trophäen mit ins Heimatdorf zu bringen. Diese «Kopfjagd» war bei den jungen Männern eng mit den Ritualen zum Übergang ins Erwachsenenalter verknüpft. Sie schmückten sich mit kodifizierten Gesichts- und Körpertätowierungen, die den besten Kriegern einen beneideten sozialen Status verliehen, welcher zum Teil Voraussetzung für die Hochzeit war, jedoch stets mit dem Zyklus der Fruchtbarkeit und guten Ernten einherging.
Die menschlichen Trophäen erleichterten ebenfalls den Zugang zum Leben nach dem Tod und gewährleisteten im Allgemeinen eine Verbindung zur Lebensenergie, zu einer Macht, die dem polynesischen Mana glich und die über Verdienstfeste und Empfangszeremonien auf die Familie, den Clan und das Dorf überging. Bis in die 60er Jahre war es üblich, Sklaven einzufangen und Trophäen zu erbeuten. Der letzte nachgewiesene Vorfall geht auf das Jahr 1990 zurück, als ein Streit zwischen
zwei Dörfern entbrannte. Dieser führte 1991 zu einem förmlichen Verbot seitens hoher Naga-Würdenträger, der Landesbehörden sowie religiöser Autoritäten.
ERKUNDUNG EINER ANDEREN WELT
Wie alle Nagas waren auch die Konyak bis in die 1960er Jahre – und noch lange Zeit danach – unermüdliche Kopfjäger, gefangen in einer wenn auch todbringenden Initiationstradition. In der Hochburg des Konyak-Stammes Longwa, an der Grenze zu Birma, versuchen wir, die letzten Überlebenden dieser Trophäenkriege ausfindig zu machen und zu interviewen. Die Strasse ist nicht mehr als eine entsetzliche Abfolge morastiger Spurrillen, in denen unser Geländewagen hin- und herschlingert. Erst gestern haben wir das tiefe Assam über die Jorhat-SibsagarRoute verlassen, und schon dringen wir in eine andere Welt vor, besiedelt von Schlammlöchern, Gespenstern und Mythen. Nach ein paar Stunden und zwei Checkpoints der Armee dringen wir immer tiefer in ein Labyrinth aus engen Tälern, halbfeuchten Wäldern und gerodeten Bergkämmen vor, wo sich eine Vielzahl kleiner Naga-Gemeinschaften angesiedelt hat.
Nach Wakching und seinem imposanten, geschnitzten Morung, einer traditionellen Hütte, die einst als Schlafquartier und Kaserne der Kopfjäger diente und heute als einfache Palaverhütte der Dorfältesten genutzt wird, befinden wir uns mittendrin, im Land der Konyak: lange strohgedeckte Häuser, Frauen, die wunderschöne bunte Perlenketten tragen und konische aus ganzen Bäumen gehauene Gongtrommeln. Das in 1’500 Metern Höhe gelegene Longwa ist ein stattliches Dorf mit 785 Häusern, 5’000 Personen, 7 Morungs und ebenso vielen Khels (Viertel). Es wird von drei symbolträchtigen Strukturen der örtlichen Verwaltung dominiert: zunächst von den Antennen und Radaranlagen der indischen Armee, dann von dem massigen evangelikalen Tempel und schliesslich vom Palast des einheimischen Königs, welcher zu Pferde auf dem Grenzkamm – ein Fuss in Indien, der andere in Birma – thront. Ganz in seiner Nähe zeugen aufgerichtete runde Steine (weibliche) und Menhire (männlich) von vergangenen Festen: Aussaat, Sonnenwende, Ernten, Verdiensten und der siegreichen Rückkehr von kriegerischen Beutezügen.
IN BEGLEITUNG VON TONYEI PHAWANG
Es ist üblich, dem Häuptling unsere Aufwartung zu machen, doch er ist «indisponiert». Also warten wir geduldig im Empfangsraum, der an einen Museumssaal erinnert. Er ist mit Schwarz-WeissFotos, Holzskulpturen und gewaltigen Mithun-Hörnern geschmückt. Diese imposanten halbwilden Dschungelrinder zählen neben dem Tiger zu den wichtigsten Totemtieren der Naga- Kosmogonie. Bei den Konyak gehört auch der Calao, eine Art Tukan, dazu.
Als Tonyei Phawang, der Erbe des letzten grossen Ang eintrifft, erkennen wir an seinem halluzinierenden Blick und dem wiegenden Schritt, dass er eine Opiumsitzung hinter sich haben muss. Im Laufe unseres Aufenthalts werden wir noch häufig die tänzelnden Pfeifen beobachten. Die meisten Männer sind durch Untätigkeit oder gar soziokulturellen Unmut abhängig geworden. Der Ang besitzt hier nur noch eine gewohnheitsmässige Amtsgewalt, doch er traf in vergangenen Zeiten, gemeinsam mit dem Ältestenrat jedes Morungs, die wichtigen Entscheidungen, die das Dorfleben regelten: kollektive Arbeiten, Rituale und Opfergaben, Zeremonien des Fruchtbarkeitszyklus, interne Konflikte. Sein Grossvater «besass» 42 Frauen, sein Vater 12 und er 2... Die Zeiten ändern sich. Auf der anderen Seite der Kammlinie, die das Dorf im Süden umrahmt, liegt Birma, genauer die Provinz Sagaing, wie die Wegmarkierungen in den Farben Indiens und Myanmars sowie die Inschriften auf Devanagari und Birmanisch verraten. Die Konyak, die sich auf beiden Seiten angesiedelt haben, können kommen und gehen, wie es ihnen beliebt, doch für uns Ausländer ist es eine unpassierbare und von Soldaten bewachte Grenze.
VOR MIR SITZEN RUHIGE VÄTERCHEN, EIN WENIG AUSGEMERGELT, SICHER, DOCH MIT SANFTEM BLICK, ALLES ANDERE ALS BLUTRÜNSTIGE SERIENMÖRDER. SIE SIND DIE LETZTEN VERTRETER EINES HOCHENTWICKELTEN WERTESYSTEMS, IN DEM INSTITUTIONALISIERTE GEWALT EINE SCHLÜSSELROLLE BEI DER SYMBOLISCHEN ÜBERTRAGUNG VON FRUCHTBARKEIT UND WOHLSTAND SPIELTE, DANK DER HEILIGEN SUBSTANZ, DIE IN DEN SCHÄDELN ENTHALTEN IST.
DIE 12 LETZTEN TÄTOWIERTEN
Im nahezu menschenleeren und von der Hitze erdrückten Dorf fragen wir, ob wir die Regale mit den aufgetürmten Schädeln, den greifbaren Relikten der Bruderkriege, sehen dürfen. Doch wir erfahren, dass auf Drängen der religiösen (christlichen) Autoritäten sämtliche Schädel im Jahr 2015 beigesetzt wurden. Daraufhin bitten wir, die Dorfältesten zu treffen, deren Tätowierungen ihren früheren Status als Krieger und Kopfjäger belegen, doch sie sind bis zum Abend auf den Feldern beschäftigt. Die Zeiten, in denen die meisten Männer mobilisiert wurden, um Wache zu halten und die Gemeinschaft vor einem möglichen Überfall zu schützen, sind vorbei. Heutzutage sind die Nagas Ackerbauern wie alle anderen, sie kultivieren Trockenreis, Hirse und andere Lebensmittel wie Taro, Mais, Rohrzucker, Erbsen, Pfefferschoten und Kartoffeln. Als sich der Tag dem Ende neigt, kehren die Männer – ihre Werkzeuge über die Schultern gelegt – von den Feldern zurück, gefolgt von einem Tross Frauen, die gebückt unter ihren mit Feuerholz bestückten Weidenkörben hinterherlaufen. In Begleitung eines jungen Mannes, der ein paar Brocken Englisch spricht, verbringen wir die kommenden Abende. Wir sausen die Treppen im Dunkeln hinunter und schlüpfen durch das Gewirr der Bambuswälder zwischen den Longhouses, um den noch lebenden ehemaligen Kriegern einen Besuch abzustatten. Sie sind zwischen 76 und 82 Jahre alt, in unterschiedlichem Masse tätowiert und tragen eine Kette um den Hals, die sie nie ablegen. Diese ist mit zwei bis fünf Kupferfiguren geschmückt, ein Symbol für die Anzahl der Köpfe, die sie dem Feind abgenommen haben! In der Dunkelheit der alten Pfahlbauten sitze ich ihnen am leise knisternden Feuer gegenüber. Unter den amüsierten oder verdutzten Blicken der Familie (Schwiegersöhne und -töchter, Kinder und Enkel) ist jede Begegnung ein einzigartiger, intensiver wie bewegender Augenblick. Während ich einige Fragen stelle, die mühsam von unserem Dolmetscherneuling weitergegeben werden, muss ich mich beeilen, um noch ein paar Fotos zu erhaschen, denn die Männer sind sehr betagt, sehr müde und ausgehungert.
VON INITIATIONEN UND KOPFBÄUMEN
Sie erzählen von ihrer bewegten Vergangenheit, dennoch sind sie stolz auf die ursprünglichen Motive dieser Überfälle: die Initiation junger Männer (bei ihrem ersten bewaffneten Streifzug sollten die Jungen einfach nur einen Fuss auf das feindliche Gebiet setzen), die altüberlieferte Blutrache (ein Balanceakt zwischen dem «positiven» Austausch von Frauen, um Inzucht zu vermeiden und dem negativen Austausch von Köpfen, der Masseinheit für Macht und Ansehen unter den Gemeinschaften), Konflikte um das Wasser für die Bewässerung oder die Urbarmachung neuer Felder. Durch die Gefangennahme von Sklaven verfügte man über Köpfe, die man für bestimmte Rituale benötigte, wie zum Beispiel für die Weihe einer neuen Gemeinschafts-Gongtrommel, Symbol jedes Morungs etc…
«An den Tagen vor einer Strafexpedition oder einem Eroberungszug waren wir gleichzeitig verängstigt und erregt».
Die Männer mussten das sogenannte «genna-Opfer», eine Reihe ritueller Verpflichtungen, die Tieropferungen und Enthaltsamkeit (genna) vorsahen, respektieren: Arbeit, Geschlechtsverkehr, gewisse Lebensmittel und Reisen waren untersagt. Die Kämpfe forderten wenige Opfer, in der Regel nicht mehr als ein oder zwei, ausser bei Hinterhalten. «Im Eifer des Gefechts war es nicht immer möglich, den Kopf mitzunehmen. Wir versuchten dann, wenigstens die Hände oder Füsse mit unserem Dao, einer Art Machetenmesser, abzuschneiden. Bei unserer Rückkehr trugen wir die Trophäen dann durchs Dorf und man organisierte eine Empfangszeremonie. Gemeinsam wurde getrommelt, im Kreis getanzt, die jungen Männer kamen, um die Trophäen zu berühren. Die Stimmung war euphorisch, unbeschreiblich! Anschliessend hing man die Errungenschaften in den Kopfbaum über dem Dorf…»
TÖTEN ODER GETÖTET WERDEN?
Zwangsläufig stellen sich widersprüchliche Gefühle ein, zwischen seltenem Privileg und diffusem Unbehagen: Vor mir sitzen ruhige Väterchen, ein wenig ausgemergelt, sicher, doch mit sanftem Blick, alles andere als blutrünstige Serienmörder. Sie sind die letzten Vertreter eines hochentwickelten Wertesystems, in dem institutionalisierte Gewalt eine Schlüsselrolle bei der symbolischen Übertragung von Fruchtbarkeit und Wohlstand spielte, dank der heiligen Substanz, die in den Schädeln enthalten ist.
Die Hände, die ich in den meinen halte, haben Köpfe abgetrennt. Diese friedlichen Augen, die mich freudig betrachten, haben die Gräuel des Kampfes erlebt, verstümmelte Körper betrachtet. Das letzte Wort hat Nyeiwang Konyak, ein schöner Krieger von stolzen 78 Jahren mit einem fünfköpfigen Anhänger: «Das ist mein Korb, in dem habe ich meine erbeuteten Köpfe transportiert. Aber man darf nicht vergessen, es hiess töten oder getötet werden! Was hätten diejenigen, die uns heute verurteilen, an unserer Stelle getan?»
BEI UNSERER RÜCKKEHR TRUGEN WIR DIE TROPHÄEN DANN DURCHS DORF UND MAN ORGANISIERTE EINE EMPFANGSZEREMONIE. GEMEINSAM WURDE GETROMMELT, IM KREIS GETANZT, DIE JUNGEN MÄNNER KAMEN, UM DIE TROPHÄEN ZU BERÜHREN. DIE STIMMUNG WAR EUPHORISCH, UNBESCHREIBLICH! ANSCHLIESSEND HING MAN DIE ERRUNGENSCHAFTEN IN DEN KOPFBAUM ÜBER DEM DORF…
AUF TUCHFÜHLUNG MIT DEN WANCHO
Die Wancho sind ein anderer bekannter Naga-Stamm, der sich eine unnahbare Aura erhalten hat. Sie leben in den Dschungeln von Tirap, der verbotenen Provinz von Arunachal, das an Birma grenzt. Wir unternehmen einen Abstecher zu diesen Schrecken früherer Zeiten.
Kontrollposten Ukanjuli, 2,5 Fahrtstunden von Sonapur entfernt. Das Tor zum Bundesstaat Arunachal Pradesh und der Provinz Tirap blieb Ausländern lange Zeit verschlossen, da wiederkehrende bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der separatistischen Guerilla und der indischen Armee für Unsicherheit sorgten. Während die Geheimdienstoffiziere unsere Sondergenehmigungen unter die Lupe nehmen, genehmigen wir uns im Tea Shop nebenan, unter einem riesigen Banyanbaum, einen Chai (MasalaTee mit Milch). Wir werden Zeugen einer etwas skurrilen Alltagsszene: Ein Mann mit so behaarten Ohren, dass man nicht sagen kann, ob es sich dabei um sein Haupthaar handelt, und sein Gegenüber mit zwölf Fingern an den Händen unterhalten sich ruhig am Nebentisch...
Nachdem die Ortschaften Khonsa (1,5 Stunden Wald) und Tissa (2 Stunden mühselige, holprige Strecke) hinter uns liegen, verbessert sich die Strasse wie auf wundersame Weise. Auf beiden Seiten des Dschungels ziehen Bambushütten an uns vorbei.
Wir steuern ein paar Dörfer an, in der Hoffnung, einige Schamanen zu treffen, die in dieser Gegend noch sehr aktiv sind. Leider ist die animistische Heilerin von Noksa zu einem christlichen Meeting (sic) aufgebrochen, und in Ninu (Wansho) hat eine Brigade der indischen Armee mit Raketenwerfern und Mörsern das Dorf besetzt. Wir verschwinden in die entgegengesetzte Richtung!
An anderer Stelle – wir sind kaum aus dem Auto gestiegen – setzt man uns einen bärtigen Alten, hinkend und mit Lendenschurz bekleidet, vor und fragt uns ganz ungeniert: «Wie viel Dollar für ein Foto?» Diese widerliche Völkerschau treibt uns auf der Stelle in die Flucht. Dann endlich, in 1'550 m Höhe, 7 km von der birmanischen Grenze entfernt, stossen wir auf das
prächtige Dorf Wakka, das sich an einen von Bambuswäldern gesäumten Hang klammert: 400 traditionelle Strohhäuser, 12 Weiler, 3’000 Einwohner. Ein Anblick wie auf einer antiken Radierung. Wir landen schliesslich beim ansässigen Raja, in einem grossen Gemeindehaus mit einer wunderschönen Empfangshalle und geschnitzten Pfählen, auf denen Jagdund Kriegsszenen zu sehen sind.
DAS ZUTRAUEN DER DORFBEWOHNER GEWINNEN
Zweiunddreissig Personen leben unter seinem Dach, allen voran seine fünf Ehefrauen und ihre Nachkommenschaft. Jede einzelne hat ihren eigenen Bereich in seinem Longhouse mit den Rattanwänden. In regelmässigen Abständen ertönt ein «Pumm-Pumm», das den ganzen Haushalt erschüttert: Es sind die jungen Mädchen nebenan, die abwechselnd im Takt den Mais stampfen. Wir verbringen den Tag damit, durch dieses recht homogene und von der Aussenwelt abgeschnittene Dorf zu schlendern. Dies gestaltet den Austausch mitunter schwierig. Viele Bewohner laufen erschrocken vor uns davon und weigern sich, mit uns zu sprechen. Dank einiger Dorfjungen, die uns neugierig begleiten, gelingt es uns jedoch allmählich, uns umzuschauen, ohne allzu grosse Aufruhr zu erregen.
Wir begutachten die Morungs, die einstigen Schlafsäle der Krieger, die mit Tierskulpturen (Tiger, Schlangen, Büffel, Nashornvögel) geschmückt sind, heute allerdings nahezu leer stehen und zusehends verfallen. Besuch bei der Hebamme von Wakka. Sie informiert uns, dass ein Schamane erst an diesem Morgen gekommen ist, um ein Reinigungsritual durchzuführen. Dann ist er wieder in sein ziemlich weit entferntes Dorf aufgebrochen. Caramba, und wieder verpasst!
Das Innere der Häuser verrät einen mehr als spartanischen Alltag. Weder Tische noch Stühle, nur winzige Hocker, um die Mahlzeiten nahe der Feuerstelle einzunehmen, über der das immerwährende Gestell zum Fleischtrocknen hängt. Bis auf einen Geschirrschrank aus Bambus gibt es keine Möbel. Während unseres Aufenthalts essen wir ausschliesslich weissen Reis mit Blättern aus dem Wald und hin und wieder etwas Geflügelfett. Keiner der alten Dorfbewohner trägt Schuhe, sie haben schon immer barfuss gelebt. Pro Haushalt gibt es meist nur eine einzige Glühbirne, wobei es tagsüber überhaupt keinen Strom gibt, und auch am Abend nur selten.
Die Frauen kümmern sich neben ihren häuslichen Pflichten um die Feldarbeit und die Beschaffung von Holz und Wasser. Zwei christliche Missionen teilen sich die Seelengemeinde von Wakka: die eine baptistisch, die andere katholisch. Etwa 60 % der Dorfbewohner sind bereits konvertiert. Für einige mag es einer doppelten Unterdrückung gleichkommen. Einerseits die natürliche und jahrhundertealte Unterdrückung durch das kompromisslose Leben in einem Bergdschungel, andererseits die neue Unterdrückung von aussen, unter der Fuchtel eines starren und konservativen christlichen Dogmas: Schluss mit sexueller Freiheit, die zwischen den jungen Leuten unterschiedlicher Clans üblich war, Alkohol und Opium sind untersagt, die Kopfjagd wird mit Exkommunikation bestraft (obwohl sie vormals als Symbol des sozialen Aufstiegs galt) und manche Pfarrer gingen sogar so weit und weihten die Morungs erneut, um ihnen jeglichen Hauch von Okkultismus zu nehmen. Das Fernsehen und das Internet sind hingegen noch nicht bis in diesen Winkel der Erde vorgedrungen.
ARMUT UND WIEDERKEHRENDE KONFLIKTE
Wie die Nagas und die meisten anderen indigenen Völker leben auch die Wancho zwischen zwei Welten. Sie haben sich zum Teil an die fremde Kultur angepasst, sind aber noch nicht in der modernen Gesellschaft integriert. In ihren westlichen Lumpen sehen sie aus wie Bettler, tragen sie jedoch ihre traditionellen Gewänder und die Attribute, die auf ihren Rang verweisen, werden sie wieder zu stolzen Herrschern. Wenn man sie bei lokalen Festen in ihrer ganzen Stammespracht betrachtet (wie hier links beim Chalo Loku), ist es manchmal ergreifend, sie in ihrem Zuhause, in ihrem Alltag, zu erleben. Die Alten umgeben von unerbittlicher materieller Armut, die Heranwachsenden von deprimierendem Müssiggang.
Einige Tage nach unserem Besuch in Wakka erfahren wir über die sozialen Netzwerke, dass das Dorf, wohl eines der schönsten in ganz Arunachal, infolge einer böswilligen Handlung vollständig abgebrannt ist. Eine der aufrührerischen Gruppen der separatistischen Guerilla, die in der Grenzregion zu Birma operierte, soll eine Patrouille der Armee auf dem Weg nach Wakka in einen Hinterhalt gelockt haben, was mit dem Tod zweier indischer Soldaten endete. Ironie des Schicksals: Einer von ihnen war ein junger Rekrut vom Stamm der Konyak aus Wakching, im benachbarten Nagaland. Daraufhin schottete sich die Provinz für viele Monate ab. Es scheint, als wäre der permanente Kriegszustand mit dem Ableben der letzten Kopfjäger nicht beendet…