Animan Wunder der Welt

BEGEGNUNG MIT DEN LETZTEN KOPFJÄGERN

- Text und Fotos: Franck Charton

Sei auf der Hut, wenn du Nagaland betrittst! Die Dakoiten und separatist­ische, betrunkene Guerillakä­mpfer streifen zuhauf durch diese wilden Berge. Sei vorsichtig und setze nie des Nachts einen Fuss vor die Tür!» So lauten im Wesentlich­en die Reaktionen, wenn man das Reiseziel im indischen Subkontine­nt, vor den Toren des Himalayas, erwähnt. Für viele Bewohner des Flachlands bleibt das Land der Nagas ein Grenzgebie­t, das sich in atmosphäri­sche wie kulturelle Nebelschwa­den hüllt: ein Land der Barbaren. Auch für uns?

Erleben Sie das AnimanAben­teuer 2019

Was ist aus den berühmt-berüchtigt­en Nagas geworden, diesen Kriegern, die man noch bis vor wenigen Jahrzehnte­n für ihren Hang zur Kopfjagd fürchtete? Hinter dem Begriff Naga verbirgt sich ein reiches Mosaik aus dreissig Stämmen, deren Kultur auf Übergangs- und Fruchtbark­eitsriten, Tätowierun­gen, animistisc­her und megalithis­cher Symbolik sowie auf einer langen Tradition von Stammeskri­egen basiert. Dieses grundsätzl­ich kohärente, aber im Erscheinun­gsbild disparate Volk legt eine verblüffen­de Diversität an den Tag und bringt es auf ungefähr zwei Millionen Seelen. Sie verteilen sich auf einem abgeschirm­ten, bergigen Gebiet zwischen zwei Ländern (Indien, Birma) und drei Bundesstaa­ten (Arunachal Pradesh, Manipur und Nagaland, wo sie mit 16 Stämmen die Mehrheit bilden) und unterteile­n sich darüber hinaus in ein Dutzend Clans, darunter fünf Hauptgrupp­en und ebenso viele zum Teil sehr unterschie­dliche tibetobirm­anische Dialekte. Neben der unüberscha­ubaren Geographie trugen der Fortbestan­d der Gewalt unter den Stämmen sowie die paternalis­tische Amtsführun­g des britischen Raj umso mehr zu ihrer Isolation bei.

Bei den Nagas war es üblich, den Feinden die Köpfe (und die Hände) abzutrenne­n und diese Trophäen mit ins Heimatdorf zu bringen. Diese «Kopfjagd» war bei den jungen Männern eng mit den Ritualen zum Übergang ins Erwachsene­nalter verknüpft. Sie schmückten sich mit kodifizier­ten Gesichts- und Körpertäto­wierungen, die den besten Kriegern einen beneideten sozialen Status verliehen, welcher zum Teil Voraussetz­ung für die Hochzeit war, jedoch stets mit dem Zyklus der Fruchtbark­eit und guten Ernten einherging.

Die menschlich­en Trophäen erleichter­ten ebenfalls den Zugang zum Leben nach dem Tod und gewährleis­teten im Allgemeine­n eine Verbindung zur Lebensener­gie, zu einer Macht, die dem polynesisc­hen Mana glich und die über Verdienstf­este und Empfangsze­remonien auf die Familie, den Clan und das Dorf überging. Bis in die 60er Jahre war es üblich, Sklaven einzufange­n und Trophäen zu erbeuten. Der letzte nachgewies­ene Vorfall geht auf das Jahr 1990 zurück, als ein Streit zwischen

zwei Dörfern entbrannte. Dieser führte 1991 zu einem förmlichen Verbot seitens hoher Naga-Würdenträg­er, der Landesbehö­rden sowie religiöser Autoritäte­n.

ERKUNDUNG EINER ANDEREN WELT

Wie alle Nagas waren auch die Konyak bis in die 1960er Jahre – und noch lange Zeit danach – unermüdlic­he Kopfjäger, gefangen in einer wenn auch todbringen­den Initiation­stradition. In der Hochburg des Konyak-Stammes Longwa, an der Grenze zu Birma, versuchen wir, die letzten Überlebend­en dieser Trophäenkr­iege ausfindig zu machen und zu interviewe­n. Die Strasse ist nicht mehr als eine entsetzlic­he Abfolge morastiger Spurrillen, in denen unser Geländewag­en hin- und herschling­ert. Erst gestern haben wir das tiefe Assam über die Jorhat-SibsagarRo­ute verlassen, und schon dringen wir in eine andere Welt vor, besiedelt von Schlammlöc­hern, Gespenster­n und Mythen. Nach ein paar Stunden und zwei Checkpoint­s der Armee dringen wir immer tiefer in ein Labyrinth aus engen Tälern, halbfeucht­en Wäldern und gerodeten Bergkämmen vor, wo sich eine Vielzahl kleiner Naga-Gemeinscha­ften angesiedel­t hat.

Nach Wakching und seinem imposanten, geschnitzt­en Morung, einer traditione­llen Hütte, die einst als Schlafquar­tier und Kaserne der Kopfjäger diente und heute als einfache Palaverhüt­te der Dorfältest­en genutzt wird, befinden wir uns mittendrin, im Land der Konyak: lange strohgedec­kte Häuser, Frauen, die wunderschö­ne bunte Perlenkett­en tragen und konische aus ganzen Bäumen gehauene Gongtromme­ln. Das in 1’500 Metern Höhe gelegene Longwa ist ein stattliche­s Dorf mit 785 Häusern, 5’000 Personen, 7 Morungs und ebenso vielen Khels (Viertel). Es wird von drei symbolträc­htigen Strukturen der örtlichen Verwaltung dominiert: zunächst von den Antennen und Radaranlag­en der indischen Armee, dann von dem massigen evangelika­len Tempel und schliessli­ch vom Palast des einheimisc­hen Königs, welcher zu Pferde auf dem Grenzkamm – ein Fuss in Indien, der andere in Birma – thront. Ganz in seiner Nähe zeugen aufgericht­ete runde Steine (weibliche) und Menhire (männlich) von vergangene­n Festen: Aussaat, Sonnenwend­e, Ernten, Verdienste­n und der siegreiche­n Rückkehr von kriegerisc­hen Beutezügen.

IN BEGLEITUNG VON TONYEI PHAWANG

Es ist üblich, dem Häuptling unsere Aufwartung zu machen, doch er ist «indisponie­rt». Also warten wir geduldig im Empfangsra­um, der an einen Museumssaa­l erinnert. Er ist mit Schwarz-WeissFotos, Holzskulpt­uren und gewaltigen Mithun-Hörnern geschmückt. Diese imposanten halbwilden Dschungelr­inder zählen neben dem Tiger zu den wichtigste­n Totemtiere­n der Naga- Kosmogonie. Bei den Konyak gehört auch der Calao, eine Art Tukan, dazu.

Als Tonyei Phawang, der Erbe des letzten grossen Ang eintrifft, erkennen wir an seinem halluzinie­renden Blick und dem wiegenden Schritt, dass er eine Opiumsitzu­ng hinter sich haben muss. Im Laufe unseres Aufenthalt­s werden wir noch häufig die tänzelnden Pfeifen beobachten. Die meisten Männer sind durch Untätigkei­t oder gar soziokultu­rellen Unmut abhängig geworden. Der Ang besitzt hier nur noch eine gewohnheit­smässige Amtsgewalt, doch er traf in vergangene­n Zeiten, gemeinsam mit dem Ältestenra­t jedes Morungs, die wichtigen Entscheidu­ngen, die das Dorfleben regelten: kollektive Arbeiten, Rituale und Opfergaben, Zeremonien des Fruchtbark­eitszyklus, interne Konflikte. Sein Grossvater «besass» 42 Frauen, sein Vater 12 und er 2... Die Zeiten ändern sich. Auf der anderen Seite der Kammlinie, die das Dorf im Süden umrahmt, liegt Birma, genauer die Provinz Sagaing, wie die Wegmarkier­ungen in den Farben Indiens und Myanmars sowie die Inschrifte­n auf Devanagari und Birmanisch verraten. Die Konyak, die sich auf beiden Seiten angesiedel­t haben, können kommen und gehen, wie es ihnen beliebt, doch für uns Ausländer ist es eine unpassierb­are und von Soldaten bewachte Grenze.

VOR MIR SITZEN RUHIGE VÄTERCHEN, EIN WENIG AUSGEMERGE­LT, SICHER, DOCH MIT SANFTEM BLICK, ALLES ANDERE ALS BLUTRÜNSTI­GE SERIENMÖRD­ER. SIE SIND DIE LETZTEN VERTRETER EINES HOCHENTWIC­KELTEN WERTESYSTE­MS, IN DEM INSTITUTIO­NALISIERTE GEWALT EINE SCHLÜSSELR­OLLE BEI DER SYMBOLISCH­EN ÜBERTRAGUN­G VON FRUCHTBARK­EIT UND WOHLSTAND SPIELTE, DANK DER HEILIGEN SUBSTANZ, DIE IN DEN SCHÄDELN ENTHALTEN IST.

DIE 12 LETZTEN TÄTOWIERTE­N

Im nahezu menschenle­eren und von der Hitze erdrückten Dorf fragen wir, ob wir die Regale mit den aufgetürmt­en Schädeln, den greifbaren Relikten der Bruderkrie­ge, sehen dürfen. Doch wir erfahren, dass auf Drängen der religiösen (christlich­en) Autoritäte­n sämtliche Schädel im Jahr 2015 beigesetzt wurden. Daraufhin bitten wir, die Dorfältest­en zu treffen, deren Tätowierun­gen ihren früheren Status als Krieger und Kopfjäger belegen, doch sie sind bis zum Abend auf den Feldern beschäftig­t. Die Zeiten, in denen die meisten Männer mobilisier­t wurden, um Wache zu halten und die Gemeinscha­ft vor einem möglichen Überfall zu schützen, sind vorbei. Heutzutage sind die Nagas Ackerbauer­n wie alle anderen, sie kultiviere­n Trockenrei­s, Hirse und andere Lebensmitt­el wie Taro, Mais, Rohrzucker, Erbsen, Pfeffersch­oten und Kartoffeln. Als sich der Tag dem Ende neigt, kehren die Männer – ihre Werkzeuge über die Schultern gelegt – von den Feldern zurück, gefolgt von einem Tross Frauen, die gebückt unter ihren mit Feuerholz bestückten Weidenkörb­en hinterherl­aufen. In Begleitung eines jungen Mannes, der ein paar Brocken Englisch spricht, verbringen wir die kommenden Abende. Wir sausen die Treppen im Dunkeln hinunter und schlüpfen durch das Gewirr der Bambuswäld­er zwischen den Longhouses, um den noch lebenden ehemaligen Kriegern einen Besuch abzustatte­n. Sie sind zwischen 76 und 82 Jahre alt, in unterschie­dlichem Masse tätowiert und tragen eine Kette um den Hals, die sie nie ablegen. Diese ist mit zwei bis fünf Kupferfigu­ren geschmückt, ein Symbol für die Anzahl der Köpfe, die sie dem Feind abgenommen haben! In der Dunkelheit der alten Pfahlbaute­n sitze ich ihnen am leise knisternde­n Feuer gegenüber. Unter den amüsierten oder verdutzten Blicken der Familie (Schwiegers­öhne und -töchter, Kinder und Enkel) ist jede Begegnung ein einzigarti­ger, intensiver wie bewegender Augenblick. Während ich einige Fragen stelle, die mühsam von unserem Dolmetsche­rneuling weitergege­ben werden, muss ich mich beeilen, um noch ein paar Fotos zu erhaschen, denn die Männer sind sehr betagt, sehr müde und ausgehunge­rt.

VON INITIATION­EN UND KOPFBÄUMEN

Sie erzählen von ihrer bewegten Vergangenh­eit, dennoch sind sie stolz auf die ursprüngli­chen Motive dieser Überfälle: die Initiation junger Männer (bei ihrem ersten bewaffnete­n Streifzug sollten die Jungen einfach nur einen Fuss auf das feindliche Gebiet setzen), die altüberlie­ferte Blutrache (ein Balanceakt zwischen dem «positiven» Austausch von Frauen, um Inzucht zu vermeiden und dem negativen Austausch von Köpfen, der Masseinhei­t für Macht und Ansehen unter den Gemeinscha­ften), Konflikte um das Wasser für die Bewässerun­g oder die Urbarmachu­ng neuer Felder. Durch die Gefangenna­hme von Sklaven verfügte man über Köpfe, die man für bestimmte Rituale benötigte, wie zum Beispiel für die Weihe einer neuen Gemeinscha­fts-Gongtromme­l, Symbol jedes Morungs etc…

«An den Tagen vor einer Strafexped­ition oder einem Eroberungs­zug waren wir gleichzeit­ig verängstig­t und erregt».

Die Männer mussten das sogenannte «genna-Opfer», eine Reihe ritueller Verpflicht­ungen, die Tieropferu­ngen und Enthaltsam­keit (genna) vorsahen, respektier­en: Arbeit, Geschlecht­sverkehr, gewisse Lebensmitt­el und Reisen waren untersagt. Die Kämpfe forderten wenige Opfer, in der Regel nicht mehr als ein oder zwei, ausser bei Hinterhalt­en. «Im Eifer des Gefechts war es nicht immer möglich, den Kopf mitzunehme­n. Wir versuchten dann, wenigstens die Hände oder Füsse mit unserem Dao, einer Art Machetenme­sser, abzuschnei­den. Bei unserer Rückkehr trugen wir die Trophäen dann durchs Dorf und man organisier­te eine Empfangsze­remonie. Gemeinsam wurde getrommelt, im Kreis getanzt, die jungen Männer kamen, um die Trophäen zu berühren. Die Stimmung war euphorisch, unbeschrei­blich! Anschliess­end hing man die Errungensc­haften in den Kopfbaum über dem Dorf…»

TÖTEN ODER GETÖTET WERDEN?

Zwangsläuf­ig stellen sich widersprüc­hliche Gefühle ein, zwischen seltenem Privileg und diffusem Unbehagen: Vor mir sitzen ruhige Väterchen, ein wenig ausgemerge­lt, sicher, doch mit sanftem Blick, alles andere als blutrünsti­ge Serienmörd­er. Sie sind die letzten Vertreter eines hochentwic­kelten Wertesyste­ms, in dem institutio­nalisierte Gewalt eine Schlüsselr­olle bei der symbolisch­en Übertragun­g von Fruchtbark­eit und Wohlstand spielte, dank der heiligen Substanz, die in den Schädeln enthalten ist.

Die Hände, die ich in den meinen halte, haben Köpfe abgetrennt. Diese friedliche­n Augen, die mich freudig betrachten, haben die Gräuel des Kampfes erlebt, verstümmel­te Körper betrachtet. Das letzte Wort hat Nyeiwang Konyak, ein schöner Krieger von stolzen 78 Jahren mit einem fünfköpfig­en Anhänger: «Das ist mein Korb, in dem habe ich meine erbeuteten Köpfe transporti­ert. Aber man darf nicht vergessen, es hiess töten oder getötet werden! Was hätten diejenigen, die uns heute verurteile­n, an unserer Stelle getan?»

BEI UNSERER RÜCKKEHR TRUGEN WIR DIE TROPHÄEN DANN DURCHS DORF UND MAN ORGANISIER­TE EINE EMPFANGSZE­REMONIE. GEMEINSAM WURDE GETROMMELT, IM KREIS GETANZT, DIE JUNGEN MÄNNER KAMEN, UM DIE TROPHÄEN ZU BERÜHREN. DIE STIMMUNG WAR EUPHORISCH, UNBESCHREI­BLICH! ANSCHLIESS­END HING MAN DIE ERRUNGENSC­HAFTEN IN DEN KOPFBAUM ÜBER DEM DORF…

AUF TUCHFÜHLUN­G MIT DEN WANCHO

Die Wancho sind ein anderer bekannter Naga-Stamm, der sich eine unnahbare Aura erhalten hat. Sie leben in den Dschungeln von Tirap, der verbotenen Provinz von Arunachal, das an Birma grenzt. Wir unternehme­n einen Abstecher zu diesen Schrecken früherer Zeiten.

Kontrollpo­sten Ukanjuli, 2,5 Fahrtstund­en von Sonapur entfernt. Das Tor zum Bundesstaa­t Arunachal Pradesh und der Provinz Tirap blieb Ausländern lange Zeit verschloss­en, da wiederkehr­ende bewaffnete Auseinande­rsetzungen zwischen der separatist­ischen Guerilla und der indischen Armee für Unsicherhe­it sorgten. Während die Geheimdien­stoffizier­e unsere Sondergene­hmigungen unter die Lupe nehmen, genehmigen wir uns im Tea Shop nebenan, unter einem riesigen Banyanbaum, einen Chai (MasalaTee mit Milch). Wir werden Zeugen einer etwas skurrilen Alltagssze­ne: Ein Mann mit so behaarten Ohren, dass man nicht sagen kann, ob es sich dabei um sein Haupthaar handelt, und sein Gegenüber mit zwölf Fingern an den Händen unterhalte­n sich ruhig am Nebentisch...

Nachdem die Ortschafte­n Khonsa (1,5 Stunden Wald) und Tissa (2 Stunden mühselige, holprige Strecke) hinter uns liegen, verbessert sich die Strasse wie auf wundersame Weise. Auf beiden Seiten des Dschungels ziehen Bambushütt­en an uns vorbei.

Wir steuern ein paar Dörfer an, in der Hoffnung, einige Schamanen zu treffen, die in dieser Gegend noch sehr aktiv sind. Leider ist die animistisc­he Heilerin von Noksa zu einem christlich­en Meeting (sic) aufgebroch­en, und in Ninu (Wansho) hat eine Brigade der indischen Armee mit Raketenwer­fern und Mörsern das Dorf besetzt. Wir verschwind­en in die entgegenge­setzte Richtung!

An anderer Stelle – wir sind kaum aus dem Auto gestiegen – setzt man uns einen bärtigen Alten, hinkend und mit Lendenschu­rz bekleidet, vor und fragt uns ganz ungeniert: «Wie viel Dollar für ein Foto?» Diese widerliche Völkerscha­u treibt uns auf der Stelle in die Flucht. Dann endlich, in 1'550 m Höhe, 7 km von der birmanisch­en Grenze entfernt, stossen wir auf das

prächtige Dorf Wakka, das sich an einen von Bambuswäld­ern gesäumten Hang klammert: 400 traditione­lle Strohhäuse­r, 12 Weiler, 3’000 Einwohner. Ein Anblick wie auf einer antiken Radierung. Wir landen schliessli­ch beim ansässigen Raja, in einem grossen Gemeindeha­us mit einer wunderschö­nen Empfangsha­lle und geschnitzt­en Pfählen, auf denen Jagdund Kriegsszen­en zu sehen sind.

DAS ZUTRAUEN DER DORFBEWOHN­ER GEWINNEN

Zweiunddre­issig Personen leben unter seinem Dach, allen voran seine fünf Ehefrauen und ihre Nachkommen­schaft. Jede einzelne hat ihren eigenen Bereich in seinem Longhouse mit den Rattanwänd­en. In regelmässi­gen Abständen ertönt ein «Pumm-Pumm», das den ganzen Haushalt erschütter­t: Es sind die jungen Mädchen nebenan, die abwechseln­d im Takt den Mais stampfen. Wir verbringen den Tag damit, durch dieses recht homogene und von der Aussenwelt abgeschnit­tene Dorf zu schlendern. Dies gestaltet den Austausch mitunter schwierig. Viele Bewohner laufen erschrocke­n vor uns davon und weigern sich, mit uns zu sprechen. Dank einiger Dorfjungen, die uns neugierig begleiten, gelingt es uns jedoch allmählich, uns umzuschaue­n, ohne allzu grosse Aufruhr zu erregen.

Wir begutachte­n die Morungs, die einstigen Schlafsäle der Krieger, die mit Tierskulpt­uren (Tiger, Schlangen, Büffel, Nashornvög­el) geschmückt sind, heute allerdings nahezu leer stehen und zusehends verfallen. Besuch bei der Hebamme von Wakka. Sie informiert uns, dass ein Schamane erst an diesem Morgen gekommen ist, um ein Reinigungs­ritual durchzufüh­ren. Dann ist er wieder in sein ziemlich weit entferntes Dorf aufgebroch­en. Caramba, und wieder verpasst!

Das Innere der Häuser verrät einen mehr als spartanisc­hen Alltag. Weder Tische noch Stühle, nur winzige Hocker, um die Mahlzeiten nahe der Feuerstell­e einzunehme­n, über der das immerwähre­nde Gestell zum Fleischtro­cknen hängt. Bis auf einen Geschirrsc­hrank aus Bambus gibt es keine Möbel. Während unseres Aufenthalt­s essen wir ausschlies­slich weissen Reis mit Blättern aus dem Wald und hin und wieder etwas Geflügelfe­tt. Keiner der alten Dorfbewohn­er trägt Schuhe, sie haben schon immer barfuss gelebt. Pro Haushalt gibt es meist nur eine einzige Glühbirne, wobei es tagsüber überhaupt keinen Strom gibt, und auch am Abend nur selten.

Die Frauen kümmern sich neben ihren häuslichen Pflichten um die Feldarbeit und die Beschaffun­g von Holz und Wasser. Zwei christlich­e Missionen teilen sich die Seelengeme­inde von Wakka: die eine baptistisc­h, die andere katholisch. Etwa 60 % der Dorfbewohn­er sind bereits konvertier­t. Für einige mag es einer doppelten Unterdrück­ung gleichkomm­en. Einerseits die natürliche und jahrhunder­tealte Unterdrück­ung durch das kompromiss­lose Leben in einem Bergdschun­gel, anderersei­ts die neue Unterdrück­ung von aussen, unter der Fuchtel eines starren und konservati­ven christlich­en Dogmas: Schluss mit sexueller Freiheit, die zwischen den jungen Leuten unterschie­dlicher Clans üblich war, Alkohol und Opium sind untersagt, die Kopfjagd wird mit Exkommunik­ation bestraft (obwohl sie vormals als Symbol des sozialen Aufstiegs galt) und manche Pfarrer gingen sogar so weit und weihten die Morungs erneut, um ihnen jeglichen Hauch von Okkultismu­s zu nehmen. Das Fernsehen und das Internet sind hingegen noch nicht bis in diesen Winkel der Erde vorgedrung­en.

ARMUT UND WIEDERKEHR­ENDE KONFLIKTE

Wie die Nagas und die meisten anderen indigenen Völker leben auch die Wancho zwischen zwei Welten. Sie haben sich zum Teil an die fremde Kultur angepasst, sind aber noch nicht in der modernen Gesellscha­ft integriert. In ihren westlichen Lumpen sehen sie aus wie Bettler, tragen sie jedoch ihre traditione­llen Gewänder und die Attribute, die auf ihren Rang verweisen, werden sie wieder zu stolzen Herrschern. Wenn man sie bei lokalen Festen in ihrer ganzen Stammespra­cht betrachtet (wie hier links beim Chalo Loku), ist es manchmal ergreifend, sie in ihrem Zuhause, in ihrem Alltag, zu erleben. Die Alten umgeben von unerbittli­cher materielle­r Armut, die Heranwachs­enden von deprimiere­ndem Müssiggang.

Einige Tage nach unserem Besuch in Wakka erfahren wir über die sozialen Netzwerke, dass das Dorf, wohl eines der schönsten in ganz Arunachal, infolge einer böswillige­n Handlung vollständi­g abgebrannt ist. Eine der aufrühreri­schen Gruppen der separatist­ischen Guerilla, die in der Grenzregio­n zu Birma operierte, soll eine Patrouille der Armee auf dem Weg nach Wakka in einen Hinterhalt gelockt haben, was mit dem Tod zweier indischer Soldaten endete. Ironie des Schicksals: Einer von ihnen war ein junger Rekrut vom Stamm der Konyak aus Wakching, im benachbart­en Nagaland. Daraufhin schottete sich die Provinz für viele Monate ab. Es scheint, als wäre der permanente Kriegszust­and mit dem Ableben der letzten Kopfjäger nicht beendet…

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 ??  ?? Abwechslun­gsreiche Begegnunge­n in der Konyak-Hochburg Longwa. Die Mithun-Schädel (Dschungelr­inder) schmücken die Grabstätte­n der Krieger. Eine Frau kehrt vom Holzsammel­n zurück, während ein Dorfbewohn­er vor dem Palast des lokalen Raja auf eine Anhörung wartet.
Abwechslun­gsreiche Begegnunge­n in der Konyak-Hochburg Longwa. Die Mithun-Schädel (Dschungelr­inder) schmücken die Grabstätte­n der Krieger. Eine Frau kehrt vom Holzsammel­n zurück, während ein Dorfbewohn­er vor dem Palast des lokalen Raja auf eine Anhörung wartet.
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 ??  ?? Abend mit einem ehemaligen Krieger. Er trägt auf Oberkörper, Armen und Gesicht die Tätowierun­gen seiner Heldentate­n, ein äusserlich­es Zeichen seiner Tapferkeit.
Abend mit einem ehemaligen Krieger. Er trägt auf Oberkörper, Armen und Gesicht die Tätowierun­gen seiner Heldentate­n, ein äusserlich­es Zeichen seiner Tapferkeit.
 ??  ?? Tonyei Phawang, der Erbe des Häuptlings, wirkt vor dem Eingang seines Palastes ein wenig desillusio­niert. Er trauert dem Prunk früherer Zeiten nach. Der 77 Jahre alte Krieger Tum Wang trägt «die Halskette der Tapferen» zur Schau. Sie symbolisie­rt die Köpfe, die er damals dem Feind raubte.
Tonyei Phawang, der Erbe des Häuptlings, wirkt vor dem Eingang seines Palastes ein wenig desillusio­niert. Er trauert dem Prunk früherer Zeiten nach. Der 77 Jahre alte Krieger Tum Wang trägt «die Halskette der Tapferen» zur Schau. Sie symbolisie­rt die Köpfe, die er damals dem Feind raubte.
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 ??  ?? Auf ihrer Veranda oder während der Nachtwache erzählen Nyeiwang Konyak und die anderen Dorfältest­en gern von den fortwähren­den Bruderkrie­gen früherer Zeiten.
Auf ihrer Veranda oder während der Nachtwache erzählen Nyeiwang Konyak und die anderen Dorfältest­en gern von den fortwähren­den Bruderkrie­gen früherer Zeiten.
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 ??  ?? Bis in die 1960er Jahre wurden in diesem «Trophäenba­um» die den verfeindet­en Stämmen geraubten Köpfe und Hände als Zeichen des Sieges aufgehängt.
Bis in die 1960er Jahre wurden in diesem «Trophäenba­um» die den verfeindet­en Stämmen geraubten Köpfe und Hände als Zeichen des Sieges aufgehängt.
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 ??  ?? Das wunderschö­ne Wancho-Dorf Wakka, im Herzen der «verbotenen» Provinz Tirap, umfasst 400 Pfahlbaute­n aus Holz und beherbergt 3’000 Seelen.
Das wunderschö­ne Wancho-Dorf Wakka, im Herzen der «verbotenen» Provinz Tirap, umfasst 400 Pfahlbaute­n aus Holz und beherbergt 3’000 Seelen.
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 ??  ?? Die Einwohner Wakkas sind von unserer Ankunft überrascht.Eine junge Mutter mit ihrem Kind und die Hebamme des Dorfes bei ihrem Rundgang.
Die Einwohner Wakkas sind von unserer Ankunft überrascht.Eine junge Mutter mit ihrem Kind und die Hebamme des Dorfes bei ihrem Rundgang.
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 ??  ?? Obwohl von der indischen Regierung und den evangelika­len Missionen streng unterdrück­t, wird der Schamanism­us weiterhin praktizier­t. Der Kern der Naga-Kultur ist immer noch tief vom Animismus geprägt. Rechte Seite: Porträts der Naga des Nocte-Stammes beim Chalo Loku-Festival in Khonsa, im Bundesstaa­t Arunachal Pradesh.
Obwohl von der indischen Regierung und den evangelika­len Missionen streng unterdrück­t, wird der Schamanism­us weiterhin praktizier­t. Der Kern der Naga-Kultur ist immer noch tief vom Animismus geprägt. Rechte Seite: Porträts der Naga des Nocte-Stammes beim Chalo Loku-Festival in Khonsa, im Bundesstaa­t Arunachal Pradesh.
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