ABSTECHER NACH ILULISSAT
Die Westküste Grönlands bietet eine Vielzahl traumhafter Perspektiven, zwischen gigantischen Eisbergen, kalbenden Gletschern, bunten Städtchen und trägen Grönlandwalen. Ein Paradies aus Eis, das zu dem «grünen Land» werden könnte, von dem einst die ersten Siedler schwärmten.
Eine sich verjüngende, in den Atlantik ragende Landspitze und eine mit dem Packeis des Nordpols fest verwachsene Masse. Eine gigantische Insel – die grösste der Welt –, die zugleich an Dänemark gebunden ist und doch über weitgehende Autonomie verfügt. Ein Inselgebiet von zwei Millionen Quadratkilometern, umsäumt von tief eingeschnittenen Fjorden sowie von einer Unmenge kleiner Inseln und grosser Eisberge. Grönland, das «grüne Land», wie der Seefahrer und Entdecker Erik der Rote es im 10. Jahrhundert taufte, präsentiert sich dem Besucher an der Westküste von seiner grosszügigen Seite. Hierher hat sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, verdrängt von den extremen Bedingungen der Ostküste, angesiedelt. An dieser zerklüfteten Küste, die sich von Norden nach Süden auf fast 2'700 Kilometern erstreckt, schiebt sich die Baffin Bay weit ins Land hinein. Die grössten Städte Grönlands, darunter die Hauptstadt Nuuk, reihen sich wie ein bunter Rosenkranz aneinander. Die sich an die Ufer schmiegenden Häuser bilden ein fröhliches Mosaik aus Blau, Rot, Lila, Grün und Gelb. Ein seltsamer Kontrast zu der ultramarinen und weissen Welt der offenen See, in der sich plötzlich ein Schwall kleiner Tröpfchen, geschleudert aus dem Blasloch eines Grönlandwals, abhebt. Bald taucht seine Schwanzflosse auf, kräftig und anmutig. Das Säugetier, das eine Länge von bis zu zwanzig Metern erreichen kann, wiegt sich in einem langsamen Walzer, wobei sein weisses und von schwarzen Flecken durchsetztes Kinn zum Vorschein kommt. Ein seltenes Spektakel. Diese vom Aussterben bedrohte Walart steht seit 1937 unter Schutz, lediglich die Inuit behalten weiterhin ihr Jagdrecht.
INMITTEN DER EISFELDER
Während der Blick dem aufgewirbelten Wasser folgt, in dem der Grönlandwal verschwunden ist, erzeugt das Zischen der Eisblöcke, die sich gegen den Rumpf des Bootes schieben, eine mysteriöse Musik. Beinahe unheimlich. Im Winter wird dieses Lied zu einem Knirschen, Knacken, Heulen. Das Schiff bricht das hartnäckige Eis. Manchmal kollidiert es mit einer Scholle, die sich als standhaft erweist, nimmt ein zweites Mal Fahrt auf, stürzt sich auf das Packeis, das schliesslich in einem beunruhigenden Getöse zerschellt. Im Kielwasser des Kreuzfahrtschiffs drängen sich die kleinen Boote der InuitFischer, die den Durchbruch nutzen. Das Puzzle der auseinandergebrochenen Eisschollen erstreckt sich so weit das Auge reicht, einzig unterbrochen vom Anblick der schwimmenden Eisberge. Unter den makellosen Eismassen wirkt das strahlende Türkis nahezu unwirklich. Früher waren die Eisberge noch grösser als heute – Schuld daran ist die globale Erwärmung. Einer von ihnen erlangte im Übrigen traurige Berühmtheit, als er den Rumpf der Titanic aufschlitzte, nachdem er von der Westküste Grönlands nach Kanada abgedriftet war. Im sanften Schimmer der Dämmerung, die stundenlang andauert, scheinen die gefrorenen Eisriesen unveränderlich.
WÄHREND DER BLICK DEM AUFGEWIRBELTEN WASSER FOLGT, IN DEM DER GRÖNLANDWAL VERSCHWUNDEN IST, ERZEUGT DAS ZISCHEN DER EISBLÖCKE, DIE SICH GEGEN DEN RUMPF DES BOOTES SCHIEBEN, EINE MYSTERIÖSE MUSIK. BEINAHE UNHEIMLICH.
WILLKOMMEN IN ILULISSAT
In der Diskobucht, dort, wo Erik der Rote im ausgehenden 10. Jahrhundert die erste europäische Kolonie gründete, erscheint Ilulissat. Die Stadt mit den bunten Häusern ist dafür bekannt, dass sie ebenso viele Menschen beherbergt wie… Schlittenhunde! Ilulissat bedeutet «Eisberg» in der Sprache der Inuit und zählt 4’700 Einwohner. Sie ist damit die drittgrösste Stadt des Landes.
Die Stadt liegt am Ende des 2004 zum UNESCO-Weltnaturerbe ernannten Eisfjords und blickt auf eine Bucht aus verstreuten Eisbergen, die vom aktivsten Gletscher der Welt, dem Sermeq Kujalleq, stammen. Früher lebte Ilulissat hauptsächlich vom Walfang, heute lebt man im Rhythmus der Besucher. Mehrere renommierte Hotels und Restaurants haben sich hier angesiedelt, darunter das Hotel Arctic mit seinen AluminiumIglus oder das gemütliche Ilulissat Guesthouse, in dem sich die Reisenden eine Gemeinschaftsküche mit grandiosem Panoramablick auf die Bucht teilen können.
In den Auslagen und auf dem Teller sind Obst und Gemüse nur äusserst selten zu finden. Die Inuit, die seit jeher auf ihrer unwirtlichen Insel isoliert waren, sind es gewohnt, auf Grünzeug zu verzichten und sich hauptsächlich von Fisch und Fleisch zu ernähren. Die Jagd ist hier eine Frage des Überlebens und die Zeiten, in denen die Alten aus freien Stücken verschwanden, wenn sie das Gefühl hatten, nutzlos zu sein, sind gar nicht so lange her. Krabben, Moschusochse, Heilbutt, Lachs und Meeresfrüchte werden mit Beeren, Seetang, Angelikawurzel und wildem Thymian verfeinert. Nahrungsmittel, die die Grönländer selbst jagen und sammeln; ihre Lebensweise richtet sich nach dem Rhythmus der Natur.
Im Winter ziehen sie sich – den Gefrierschrank voller Wild – in ihre Häuser zurück. Im Sommer, wenn die Sonne nicht mehr untergeht, fahren sie hinaus zum Angeln, Jagen oder sammeln Krähenbeeren. In diesem Land, in dem die Versorgung von aussen entweder unmöglich oder zu kostspielig ist, kann man einzig auf sich selbst zählen. Nichts wird verschwendet: Moschusochsenwolle wird gesponnen, Karibu-Hörner geschnitzt, Kapuzen mit Huskypelz geschmückt und aus Robbenfellen Kleidungsstücke hergestellt.
IM LAND DER SCHLITTENHUNDE
In früheren Zeiten waren die Grönlandhunde den Menschen in Ilulissat zahlenmässig überlegen, heute wird ihre Population reguliert. Hundeschlittenfahrten stehen bei den Besuchern nach wie vor hoch im Kurs, doch die kalte Jahreszeit verkürzt sich – wieder spielt die globale Erwärmung eine Rolle – und das Schneemobil verzeichnet einen durchschlagenden Erfolg. Also besitzen die Inuit in Ilulissat nicht mehr wie früher vierzig Hunde pro Haushalt, sondern nur noch ein gutes Dutzend.
Um Seuchen zu vermeiden – einer der Hunde hatte damals die Tiere dezimiert –, werden sie am Stadtrand angekettet. Die Grönlandhunde sind in erster Linie Arbeitsgeräte, keine Haustiere. Sie werden von klein auf für die Arbeit geschult und leben das ganze Jahr über draussen. Wenn die Temperaturen deutlich unter null fallen, kuscheln sie sich in den Schnee. Ihre robuste Konstitution erlaubt es ihnen, Temperaturen bis minus dreissig Grad auszuhalten! Die unglaubliche Ausdauer dieser streng gehüteten Rasse zeigt sich bei einer Schlittenfahrt durch die unermesslichen eisigen Weiten. Von Ilulissat aus rast das Gespann mit voller Geschwindigkeit durch den Schnee bis nach Ilmanaq, ein Inuit-Dorf am gefühlten Ende der Welt. Im Sommer, wenn der Boden wieder zum Vorschein kommt, lässt sich die Umgebung zu Fuss erkunden. Vom Gipfel des Hügels aus bringt das Panorama die gigantischen Ausmasse der Gletscher ans Licht, die sich vom Inlandeis lösen und mit erstaunlichem Getöse in die Diskobucht stürzen. Der Sermeq Kujalleq ist einer der aktivsten Gletscher der Erde, seine riesige Masse bewegt sich täglich um 20 Meter. Die Eisblöcke, die sich vom Gletscher lösen, können eine Höhe von 1’000 Metern erreichen. Ein unwiderstehlicher und unbeschreiblicher Nervenkitzel, wenn sie durch den Aufprall mit anderen Eisbergen in sich zusammenstürzen.
ARTENREICHE FAUNA UND GLOBALE ERWÄRMUNG
Während der Sermeq Kujalleq weiter seine Eisberge kalbt, geniessen die Seevogelarten die Vorzüge des Sommers: Die Krabbentaucher nisten in den grossen Geröllfeldern, in sicherer Entfernung zu den Raubtieren, während sich Dickschnabellummen und Dreizehenmöwen in den Klippen niedergelassen haben. Die Küstenseeschwalbe spielt den Globetrotter, sie nistet den Sommer über auf Grönland und überwintert auf der anderen Seite der Erdkugel, in der Antarktis.
Entlang der Küsten, wo eine Vielzahl an Blumen gedeihen, suchen Inuit-Fischer im Wasser nach Heilbutt, Kabeljau und Seetang. An Land frisst sich das Karibu an dem frischen Gras satt, während der Eisbär, ebenfalls ein Opfer des Klimawandels, aus Mangel an Packeis und Robben gezwungen ist, mit Trockenfutter wie Beeren auszukommen.
Der markierte Pfad dieser Gegend, die als UNESCO-Naturerbe klassifiziert ist, führt den Wanderer zurück nach Ilulissat. In dem bunten Patchwork aus Häusern befindet sich auch das Heim des berühmtesten Sohnes des Landes, Knud Rasmussen. Heute in ein Museum umfunktioniert, erzählt es vom Leben und den Expeditionen des Entdeckers. Nicht weit entfernt, etwas abseits vom Hafen, erhebt sich das schwarze Gebäude der lutherischen Kirche. Eine ideale Position, um die Diskobucht mit ihren unzähligen Eisbergen zu bewundern.
Ein unbestrittener Spot für Fotografen, aber auch ein schauriger Beobachtungspunkt, um sich die rasante Beschleunigung der Klimaerwärmung vor Augen zu führen: Die riesige Eiszunge des Sermeq Kujalleq schrumpfte in einem Jahrhundert um zwanzig Kilometer. Rückzug des Eises, Verkürzung der Wintersaison, die sommerliche Zwangsdiät der Eisbären, die gezwungen sind, an Land zu bleiben... Wird Grönland wirklich zu dem von Erik dem Roten gepriesenen «grünen Land», mit dem er die Siedler zu verführen suchte?
DIE RIESIGE EISZUNGE DES SERMEQ KUJALLEQ VERLOR IN EINEM JAHRHUNDERT ZWANZIG KILOMETER. RÜCKZUG DES EISES, VERKÜRZUNG DER WINTERSAISON, DIE SOMMERLICHE ZWANGSDIÄT DER EISBÄREN, DIE GEZWUNGEN SIND, AN LAND ZU BLEIBEN... WIRD GRÖNLAND WIRKLICH ZU DEM VON ERIK DEM ROTEN GEPRIESENEN «GRÜNEN LAND»?