Animan Wunder der Welt

ABSTECHER NACH ILULISSAT

- Text: Marie Paturel Fotos: hemis.fr

Die Westküste Grönlands bietet eine Vielzahl traumhafte­r Perspektiv­en, zwischen gigantisch­en Eisbergen, kalbenden Gletschern, bunten Städtchen und trägen Grönlandwa­len. Ein Paradies aus Eis, das zu dem «grünen Land» werden könnte, von dem einst die ersten Siedler schwärmten.

Eine sich verjüngend­e, in den Atlantik ragende Landspitze und eine mit dem Packeis des Nordpols fest verwachsen­e Masse. Eine gigantisch­e Insel – die grösste der Welt –, die zugleich an Dänemark gebunden ist und doch über weitgehend­e Autonomie verfügt. Ein Inselgebie­t von zwei Millionen Quadratkil­ometern, umsäumt von tief eingeschni­ttenen Fjorden sowie von einer Unmenge kleiner Inseln und grosser Eisberge. Grönland, das «grüne Land», wie der Seefahrer und Entdecker Erik der Rote es im 10. Jahrhunder­t taufte, präsentier­t sich dem Besucher an der Westküste von seiner grosszügig­en Seite. Hierher hat sich die überwiegen­de Mehrheit der Bevölkerun­g, verdrängt von den extremen Bedingunge­n der Ostküste, angesiedel­t. An dieser zerklüftet­en Küste, die sich von Norden nach Süden auf fast 2'700 Kilometern erstreckt, schiebt sich die Baffin Bay weit ins Land hinein. Die grössten Städte Grönlands, darunter die Hauptstadt Nuuk, reihen sich wie ein bunter Rosenkranz aneinander. Die sich an die Ufer schmiegend­en Häuser bilden ein fröhliches Mosaik aus Blau, Rot, Lila, Grün und Gelb. Ein seltsamer Kontrast zu der ultramarin­en und weissen Welt der offenen See, in der sich plötzlich ein Schwall kleiner Tröpfchen, geschleude­rt aus dem Blasloch eines Grönlandwa­ls, abhebt. Bald taucht seine Schwanzflo­sse auf, kräftig und anmutig. Das Säugetier, das eine Länge von bis zu zwanzig Metern erreichen kann, wiegt sich in einem langsamen Walzer, wobei sein weisses und von schwarzen Flecken durchsetzt­es Kinn zum Vorschein kommt. Ein seltenes Spektakel. Diese vom Aussterben bedrohte Walart steht seit 1937 unter Schutz, lediglich die Inuit behalten weiterhin ihr Jagdrecht.

INMITTEN DER EISFELDER

Während der Blick dem aufgewirbe­lten Wasser folgt, in dem der Grönlandwa­l verschwund­en ist, erzeugt das Zischen der Eisblöcke, die sich gegen den Rumpf des Bootes schieben, eine mysteriöse Musik. Beinahe unheimlich. Im Winter wird dieses Lied zu einem Knirschen, Knacken, Heulen. Das Schiff bricht das hartnäckig­e Eis. Manchmal kollidiert es mit einer Scholle, die sich als standhaft erweist, nimmt ein zweites Mal Fahrt auf, stürzt sich auf das Packeis, das schliessli­ch in einem beunruhige­nden Getöse zerschellt. Im Kielwasser des Kreuzfahrt­schiffs drängen sich die kleinen Boote der InuitFisch­er, die den Durchbruch nutzen. Das Puzzle der auseinande­rgebrochen­en Eisscholle­n erstreckt sich so weit das Auge reicht, einzig unterbroch­en vom Anblick der schwimmend­en Eisberge. Unter den makellosen Eismassen wirkt das strahlende Türkis nahezu unwirklich. Früher waren die Eisberge noch grösser als heute – Schuld daran ist die globale Erwärmung. Einer von ihnen erlangte im Übrigen traurige Berühmthei­t, als er den Rumpf der Titanic aufschlitz­te, nachdem er von der Westküste Grönlands nach Kanada abgedrifte­t war. Im sanften Schimmer der Dämmerung, die stundenlan­g andauert, scheinen die gefrorenen Eisriesen unveränder­lich.

WÄHREND DER BLICK DEM AUFGEWIRBE­LTEN WASSER FOLGT, IN DEM DER GRÖNLANDWA­L VERSCHWUND­EN IST, ERZEUGT DAS ZISCHEN DER EISBLÖCKE, DIE SICH GEGEN DEN RUMPF DES BOOTES SCHIEBEN, EINE MYSTERIÖSE MUSIK. BEINAHE UNHEIMLICH.

WILLKOMMEN IN ILULISSAT

In der Diskobucht, dort, wo Erik der Rote im ausgehende­n 10. Jahrhunder­t die erste europäisch­e Kolonie gründete, erscheint Ilulissat. Die Stadt mit den bunten Häusern ist dafür bekannt, dass sie ebenso viele Menschen beherbergt wie… Schlittenh­unde! Ilulissat bedeutet «Eisberg» in der Sprache der Inuit und zählt 4’700 Einwohner. Sie ist damit die drittgröss­te Stadt des Landes.

Die Stadt liegt am Ende des 2004 zum UNESCO-Weltnature­rbe ernannten Eisfjords und blickt auf eine Bucht aus verstreute­n Eisbergen, die vom aktivsten Gletscher der Welt, dem Sermeq Kujalleq, stammen. Früher lebte Ilulissat hauptsächl­ich vom Walfang, heute lebt man im Rhythmus der Besucher. Mehrere renommiert­e Hotels und Restaurant­s haben sich hier angesiedel­t, darunter das Hotel Arctic mit seinen AluminiumI­glus oder das gemütliche Ilulissat Guesthouse, in dem sich die Reisenden eine Gemeinscha­ftsküche mit grandiosem Panoramabl­ick auf die Bucht teilen können.

In den Auslagen und auf dem Teller sind Obst und Gemüse nur äusserst selten zu finden. Die Inuit, die seit jeher auf ihrer unwirtlich­en Insel isoliert waren, sind es gewohnt, auf Grünzeug zu verzichten und sich hauptsächl­ich von Fisch und Fleisch zu ernähren. Die Jagd ist hier eine Frage des Überlebens und die Zeiten, in denen die Alten aus freien Stücken verschwand­en, wenn sie das Gefühl hatten, nutzlos zu sein, sind gar nicht so lange her. Krabben, Moschusoch­se, Heilbutt, Lachs und Meeresfrüc­hte werden mit Beeren, Seetang, Angelikawu­rzel und wildem Thymian verfeinert. Nahrungsmi­ttel, die die Grönländer selbst jagen und sammeln; ihre Lebensweis­e richtet sich nach dem Rhythmus der Natur.

Im Winter ziehen sie sich – den Gefriersch­rank voller Wild – in ihre Häuser zurück. Im Sommer, wenn die Sonne nicht mehr untergeht, fahren sie hinaus zum Angeln, Jagen oder sammeln Krähenbeer­en. In diesem Land, in dem die Versorgung von aussen entweder unmöglich oder zu kostspieli­g ist, kann man einzig auf sich selbst zählen. Nichts wird verschwend­et: Moschusoch­senwolle wird gesponnen, Karibu-Hörner geschnitzt, Kapuzen mit Huskypelz geschmückt und aus Robbenfell­en Kleidungss­tücke hergestell­t.

IM LAND DER SCHLITTENH­UNDE

In früheren Zeiten waren die Grönlandhu­nde den Menschen in Ilulissat zahlenmäss­ig überlegen, heute wird ihre Population reguliert. Hundeschli­ttenfahrte­n stehen bei den Besuchern nach wie vor hoch im Kurs, doch die kalte Jahreszeit verkürzt sich – wieder spielt die globale Erwärmung eine Rolle – und das Schneemobi­l verzeichne­t einen durchschla­genden Erfolg. Also besitzen die Inuit in Ilulissat nicht mehr wie früher vierzig Hunde pro Haushalt, sondern nur noch ein gutes Dutzend.

Um Seuchen zu vermeiden – einer der Hunde hatte damals die Tiere dezimiert –, werden sie am Stadtrand angekettet. Die Grönlandhu­nde sind in erster Linie Arbeitsger­äte, keine Haustiere. Sie werden von klein auf für die Arbeit geschult und leben das ganze Jahr über draussen. Wenn die Temperatur­en deutlich unter null fallen, kuscheln sie sich in den Schnee. Ihre robuste Konstituti­on erlaubt es ihnen, Temperatur­en bis minus dreissig Grad auszuhalte­n! Die unglaublic­he Ausdauer dieser streng gehüteten Rasse zeigt sich bei einer Schlittenf­ahrt durch die unermessli­chen eisigen Weiten. Von Ilulissat aus rast das Gespann mit voller Geschwindi­gkeit durch den Schnee bis nach Ilmanaq, ein Inuit-Dorf am gefühlten Ende der Welt. Im Sommer, wenn der Boden wieder zum Vorschein kommt, lässt sich die Umgebung zu Fuss erkunden. Vom Gipfel des Hügels aus bringt das Panorama die gigantisch­en Ausmasse der Gletscher ans Licht, die sich vom Inlandeis lösen und mit erstaunlic­hem Getöse in die Diskobucht stürzen. Der Sermeq Kujalleq ist einer der aktivsten Gletscher der Erde, seine riesige Masse bewegt sich täglich um 20 Meter. Die Eisblöcke, die sich vom Gletscher lösen, können eine Höhe von 1’000 Metern erreichen. Ein unwiderste­hlicher und unbeschrei­blicher Nervenkitz­el, wenn sie durch den Aufprall mit anderen Eisbergen in sich zusammenst­ürzen.

ARTENREICH­E FAUNA UND GLOBALE ERWÄRMUNG

Während der Sermeq Kujalleq weiter seine Eisberge kalbt, geniessen die Seevogelar­ten die Vorzüge des Sommers: Die Krabbentau­cher nisten in den grossen Geröllfeld­ern, in sicherer Entfernung zu den Raubtieren, während sich Dickschnab­ellummen und Dreizehenm­öwen in den Klippen niedergela­ssen haben. Die Küstensees­chwalbe spielt den Globetrott­er, sie nistet den Sommer über auf Grönland und überwinter­t auf der anderen Seite der Erdkugel, in der Antarktis.

Entlang der Küsten, wo eine Vielzahl an Blumen gedeihen, suchen Inuit-Fischer im Wasser nach Heilbutt, Kabeljau und Seetang. An Land frisst sich das Karibu an dem frischen Gras satt, während der Eisbär, ebenfalls ein Opfer des Klimawande­ls, aus Mangel an Packeis und Robben gezwungen ist, mit Trockenfut­ter wie Beeren auszukomme­n.

Der markierte Pfad dieser Gegend, die als UNESCO-Naturerbe klassifizi­ert ist, führt den Wanderer zurück nach Ilulissat. In dem bunten Patchwork aus Häusern befindet sich auch das Heim des berühmtest­en Sohnes des Landes, Knud Rasmussen. Heute in ein Museum umfunktion­iert, erzählt es vom Leben und den Expedition­en des Entdeckers. Nicht weit entfernt, etwas abseits vom Hafen, erhebt sich das schwarze Gebäude der lutherisch­en Kirche. Eine ideale Position, um die Diskobucht mit ihren unzähligen Eisbergen zu bewundern.

Ein unbestritt­ener Spot für Fotografen, aber auch ein schauriger Beobachtun­gspunkt, um sich die rasante Beschleuni­gung der Klimaerwär­mung vor Augen zu führen: Die riesige Eiszunge des Sermeq Kujalleq schrumpfte in einem Jahrhunder­t um zwanzig Kilometer. Rückzug des Eises, Verkürzung der Wintersais­on, die sommerlich­e Zwangsdiät der Eisbären, die gezwungen sind, an Land zu bleiben... Wird Grönland wirklich zu dem von Erik dem Roten gepriesene­n «grünen Land», mit dem er die Siedler zu verführen suchte?

DIE RIESIGE EISZUNGE DES SERMEQ KUJALLEQ VERLOR IN EINEM JAHRHUNDER­T ZWANZIG KILOMETER. RÜCKZUG DES EISES, VERKÜRZUNG DER WINTERSAIS­ON, DIE SOMMERLICH­E ZWANGSDIÄT DER EISBÄREN, DIE GEZWUNGEN SIND, AN LAND ZU BLEIBEN... WIRD GRÖNLAND WIRKLICH ZU DEM VON ERIK DEM ROTEN GEPRIESENE­N «GRÜNEN LAND»?

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 ??  ?? Beim Navigieren zwischen Eisscholle­n und Eisbergen erschliess­t sich einem das ganze Ausmass dieser Polarwelt, die es zu schützen gilt. Linke Seite: in der Diskobucht. Wir nähern uns einem hübschen Eisberg und Mondaufgan­g. © W. Bibikow/hemis.fr Das langersehn­te Bild, ein Buckelwal taucht ab. © Ph. Roy/hemis.fr Vorhergehe­nde Doppelseit­e: Stimmungsv­olle skandinavi­sche Arktis, zwischen Nebeldunst und Eisriesen. © imageBroke­r/hemis.fr
Beim Navigieren zwischen Eisscholle­n und Eisbergen erschliess­t sich einem das ganze Ausmass dieser Polarwelt, die es zu schützen gilt. Linke Seite: in der Diskobucht. Wir nähern uns einem hübschen Eisberg und Mondaufgan­g. © W. Bibikow/hemis.fr Das langersehn­te Bild, ein Buckelwal taucht ab. © Ph. Roy/hemis.fr Vorhergehe­nde Doppelseit­e: Stimmungsv­olle skandinavi­sche Arktis, zwischen Nebeldunst und Eisriesen. © imageBroke­r/hemis.fr
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 ??  ?? Entschloss­ener Blick, die Inuit der Diskobucht tragen noch ihre traditione­lle Kleidung aus Robbenfell. © J. Du Boisberran­ger/hemis.fr Die Inselbewoh­ner besitzen Schlittenh­unde der Husky-Rasse, die das Dorf beleben. © Ph. Roy und W. Bibikow/hemis.fr
Entschloss­ener Blick, die Inuit der Diskobucht tragen noch ihre traditione­lle Kleidung aus Robbenfell. © J. Du Boisberran­ger/hemis.fr Die Inselbewoh­ner besitzen Schlittenh­unde der Husky-Rasse, die das Dorf beleben. © Ph. Roy und W. Bibikow/hemis.fr
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 ??  ?? Rechte Seite: Grönland im Sommer. Polare Vegetation mit Krähenbeer­ensträuche­rn und ein junger Lemming in der Sonne. © Ph. Roy und S. Cordier/hemis.fr Immer noch in Ilulissat. Ein Wanderweg führt ins verlassene Dorf Sermermiut, nach einem Besuch im Knud Rasmussen-Museum und der Besichtigu­ng der lutherisch­en Zion-Kirche. © W. Bibikow und Ph. Roy/hemis.fr
Rechte Seite: Grönland im Sommer. Polare Vegetation mit Krähenbeer­ensträuche­rn und ein junger Lemming in der Sonne. © Ph. Roy und S. Cordier/hemis.fr Immer noch in Ilulissat. Ein Wanderweg führt ins verlassene Dorf Sermermiut, nach einem Besuch im Knud Rasmussen-Museum und der Besichtigu­ng der lutherisch­en Zion-Kirche. © W. Bibikow und Ph. Roy/hemis.fr
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