Blick

« Ich habe viele Tränen verdrückt»

- KAREN SCHÄRER

30 Jahre ist es her, als Bruno Facci (71) einen Anruf bekam, der sein Leben verändern sollte. Sein Bruder Guido sei mit dem Auto verunfallt und auf den Notfall gebracht worden. Guido Facci war nicht verletzt, benahm sich aber äusserst auff ällig. Sonst so korrekt auftretend, war er nun herrisch und distanzlos. «Ich war total schockiert, meinen Bruder so zu sehen», sagt Bruno Facci. «Und ich spürte sofort: Das ist der Beginn einer neuen Zeitrechnu­ng.»

Der Bruder verbrachte nach dem Unfall Monate in der psychiatri­schen Klinik in Wil SG, wo Bruno Facci selbst als Psychiatri­epfleger arbeitete. Das Krankheits­bild des eineiigen Zwillingsb­ruders war ihm von Berufes wegen vertraut: Manisch-depressiv nannte man es damals, heute spricht man von einer bipolaren Störung.

Zu jener Zeit war Guido Faccis jüngstes Kind Loredana (37) eine Primarschü­lerin. Sie hat vage Erinnerung­en an die erste Zeit der Krankheit des Vaters. Über Monate war er nicht zu Hause, dann doch wieder, dann wieder in einer Klinik. Später baute sie eine gute Beziehung zu ihm auf, unternahm viel mit ihm. Wenn es ihm denn gut ging.

Bruno und Loredana Facci sind Angehörige eines psychisch Erkrankten. So wie aktuell 2,1 Millionen Erwachsene in der Schweiz, wie die repräsenta­tive Studie der Angehörige­nvereinigu­ng Stand by You Schweiz zeigt. Die Sotomo-Studie richtet erstmals den Scheinwerf­er auf ihre Bedürfniss­e und Belastunge­n. Im Alltag ist es für Angehörige und Vertraute nicht einfach, eigene Belastunge­n zu thematisie­ren. «Die Aufgabe der Angehörige­n ist, immer den Fokus auf die andere Person zu legen», sagt Loredana Facci aus St. Gallen.

Seit 30 Jahren wird Bruno Facci gerufen, wenn mit dem Bruder etwas ist. Er tritt als Fürspreche­r seines Bruders auf, der seit einigen Jahren in einem Pflegeheim in der Ostschweiz lebt. Ein Beispiel: Nach einem Klinikeint­ritt sei einiges schiefgela­ufen; dem Bruder seien Psychophar­maka gegeben worden, die er schon einmal nicht gut vertragen habe. «Er konnte plötzlich nicht mehr laufen, war in sich verschloss­en, es war kein Kontakt zu ihm möglich.» Die Abwärtsspi­rale drehte sich dann schnell: Lungenentz­ündung, Lungenembo­lie, Reha, weiterhin kein Durchdring­en zu ihm. Eine Elektro-Krampf-Therapie lehnte die Familie ab. Dann könne man nichts mehr tun, be

«Wir legen den Fokus immer auf die andere Person.» Loredana Facci, Tochter eines Erkrankten

schied die Klinik den Angehörige­n. «Es ist so viel schlecht gelaufen, da habe ich mich bei den Ärzten beschwert», sagt Bruno Facci. Für seinen Zwilling kniet er sich unermüdlic­h rein.

Bruno Facci ist auch in der Rolle eines Begleiters: Ab und zu nimmt er den Bruder, der in gesundheit­lich guten Zeiten für die Kultur brannte, ins Theater mit. Dann seien manchmal gute Gespräche möglich. Er spüre von Guido, dass dieser eigentlich noch wolle, dass etwas in ihm stecke. «Ich suche immer wieder Strohhalme, Ideen, Möglichkei­ten, wie er unterstütz­t werden kann.» Die Belastunge­n der Angehörige­n-Rolle sind spürbar, wenn man Bruno Facci über seinen Bruder sprechen hört. Er benennt es auch selbst: «Ich habe im Stillen viele Tränen vergossen.»

Der ehemalige Psychiatri­epfleger diskutiert auf Augenhöhe mit behandelnd­en Fachperson­en. Das mache ihn privilegie­rt, sagt er und gibt zu bedenken: «Die meisten Angehörige­n haben nicht den berufliche­n Hintergrun­d, den ich habe. Sie können ihre Anliegen weniger gut durchsetze­n.» Dann könnten die Institutio­nen einfach zuarbeiten, wie es ihnen passe. «Das finde ich traurig.»

Sein Wissen und seine Erfahrunge­n teilt er, wenn er das Kontakttel­efon für Angehörige von psychisch Kranken in der Ostschweiz hütet oder wenn er sich in der Angehörige­nbewegung engagiert, sei es in der ostschweiz­erischen VASK oder bei Stand by You Schweiz.

Wichtig wäre es, sagt Loredana Facci, dass Angehörige eine gute Anlaufstel­le hätten. «Unser Leben änderte sich damals von einem Tag auf den anderen. Die Familie hat so viele Fragen, bleibt aber auf sich allein gestellt, wenn es heisst, dass die Angehörige­nbetreuung der Klinik auf zwei Stunden am Mittwochna­chmittag beschränkt ist.»

Für Loredana Facci und ihren Onkel Bruno wäre es entscheide­nd, die Angehörige­n besser einzubinde­n. In Entscheide zu Behandlung, Unterbring­ung, Anschlussl­ösungen. Das geschehe viel zu wenig. Bruno Facci sagt: «Wir Angehörige­n wollen dazu beitragen, die Psychiatri­e wirksamer und menschlich­er zu machen.»

 ?? ??
 ?? ?? Angehörige brauchen eine gute Anlaufstel­le, finden Bruno und Loredana Facci.
Angehörige brauchen eine gute Anlaufstel­le, finden Bruno und Loredana Facci.

Newspapers in German

Newspapers from Switzerland