Die klare Linie
Immer noch dieselbe jugendliche Erscheinung, weißes T-Shirt, Bluejeans, Tennisschuhe aus Stoff, lange Haare. Und dieses charmante Lächeln, das zu sagen scheint: „Das Leben ist super“. Olivier Theyskens dreht sich eine Zigarette, beißt in seine Apfeltasche. Das Interview kann beginnen.
Die Adresse hat sich geändert. Er nicht. Beim letzten Mal vor zwei Jahren haben wir uns im Marais getroffen. An diesem Julimorgen ist es das 10. Arrondissement in Paris, wo Restaurants die Szene beherrschen und wir Olivier Theyskens begegnen. Im Januar 2019 tauscht sein Modehaus die modernen Räumlichkeiten in der Rue Portefoin gegen das Hotel de Bourrienne, ein architektonisches Kleinod und anerkanntes historisches Monument des 18. Jahrhunderts im Directoire-Stil. Eine Chance wie ein gutes Vorzeichen. Eine Gelegenheit für uns, mit dem franko-belgischen Designer auf den Punkt zu kommen, über Aktuelles, seine Wünsche und die Mode zu diskutieren.
Welch unglaublicher Ort! Wie haben Sie ihn gefunden?
Olivier Theyskens: Wie haben lange gesucht. Das Hotel de Bourrienne wird seit mehr als fünf Jahren restauriert, und diese eine Etage war fertig. Wir haben dort unsere letzte Modenschau gemacht… Wir hatten es eilig, umzuziehen.
Wie viele sind es jetzt?
Eine Handvoll, keine zehn Personen. Aber ich bin sehr durchorganisiert. Ich stelle alles in Italien her. Ich habe dort einige wichtige Mitarbeiter, ich lebe zwischen Italien und Paris.
Wie geht es, wenn man sein eigener Chef ist?
Man muss sich ständig unter Beweis stellen. Ich habe 1997 mit meinen Kollektionen begonnen. Manchmal ist es von Vorteil, allein zu arbeiten. Anfangs war ich sehr naiv, seitdem hat sich viel in der Modeindustrie geändert. Die großen, omnipotenten Strukturen bestehen immer noch, aber zum Glück gibt es gleichzeitig eine bunte Vielzahl von Versuchen, Sprösslinge sozusagen. Die Mode steht auf Projekte, Neuheiten. Sie ist zwar den Umsatzzahlen unterworfen, aber sie hat auch Ausdruckskraft, Freiheit, Detailsuche und den menschlichen Aspekt nötig.
Wo finden Sie den menschlichen Aspekt?
Bei den Herstellern, mit denen ich zusammenarbeite. Das sind meist kleine Familienbetriebe, die sich in dieser enormen Welt bewegen und denen ich treu bleibe. Inzwischen arbeite ich mit der nächsten Generation, die ich schon als Kinder kannte, den Nachfahren.
Was an Ihnen ist Belgisch, was Französisch?
Meine Mutter ist Französin, sie stammt aus der Normandie. Von der Familie meiner Mutter wurde ich sehr beeinflusst. Mein Großvater war Pole, sehr rustikal und vielseitig. Meine Großeltern sammelten tausend Dinge, das war schon fast zwanghaft. Als ich klein war, habe ich alles verinnerlicht, was mich bei ihnen umgab: Fossilien, Platten von Nana Mouskouri… Meine Großmutter wusste, dass ich Schnick-Schnack mochte, sie hob mir Teile von Spitzenbordüren auf, Pelzstückchen, Seiten von Modeheften. Das war ein reiches und beeindruckendes Universum. Die Seite meines Vaters war konventioneller und bürgerlicher.
Heute gehört es zum guten Ton, einen großen Freundeskreis zu haben, wenn man Modeschöpfer ist. Haben sie einen?
Nicht wirklich. Ich habe Bekannte, mit denen ich gerne einen Moment verbringe. Aber das Leben eines jeden entwickelt sich weiter. Seit ich angefangen habe, gibt es da Michel Gaubert. Ich brauche seine Musik, wenn ich ausgepowert bin. Dann gibt es noch Julien Claessens, der mich fotografiert hat, als ich Student war. Ich hatte die Statur einer Elfe, er hat mich in der Unterwäsche
seiner Freundin posieren lassen. Das ist 25 Jahre her. Wenn ich ein Projekt habe, denke ich natürlich an ihn.
Sie sprechen von Musik. Welchen Platz nimmt sie in Ihrem Leben ein?
Als Kind habe ich davon geträumt, Geigenspieler zu werden. Ich mochte dieses Instrument sehr. Ich war ein sehr melancholischer Junge. Damals war mir die Welt der Mode noch unbekannt.
Und was hören Sie heute?
Ich bin ein Spotify-Fan. Früher brauchte ich immer Michel (Gaubert, Anm. d. Red.). Musik war für mich die Voraussetzung, zeichnen zu können. Wenn nicht das richtige Stück lief, dann kam nichts zustande. Dann, zur Zeit von Rochas (2002), fing ich an, in der Stille zu zeichnen. Ich habe die Musik ausgemacht. Heute kann ich zeichnen, egal was ich höre.
Erzählen sie uns von Schwarz, das ist doch Ihre Farbe, oder?
Als ich angefangen habe, wurde ich als Anhänger von Gothik angesehen. In Wirklichkeit war ich das gar nicht, Schwarz war keine Obsession. Bei Rochas bin ich zum graphischen Schick von Schwarz gekommen. Bei Nina Ricci (2006-2009) habe ich mich wieder davon gelöst. Dann bei Theory (2010-2015) bin ich dazu zurückgekehrt, zusammen mit Weiß und Nude, das Farbtrio des Hauses. Stoffe inspirieren mich sehr. Und oft findet man bei den Herstellern die schönsten in Schwarz. Also verarbeite ich sie wie sie kommen. Diese Farbe unterstreicht das Material.
In Ihrer Herbst-/Winterkollektion haben sie ein einziges Kleid in Rosé vorgestellt…
Ich bin misstrauisch gegenüber dem theatralen Touch der Farbe. Ich neige dazu, Weiblichkeit herauszuspüren. Ich komme zu dem Eindruck und der Vorstellung, dass das eine Frau ist. Ich nehme wahr, wie man sich in einem Kleidungsstück fühlen kann. Die Farbe ist perfekt für den roten Teppich und die Zeitschriften. Für mich aber ist Schwarz schicker und oft sehr schön. Aber vielleicht werde ich auf der 100-prozentigen Farbwelle mitschwimmen…
Vor etwa vier Jahren sprachen Sie von Sportswear, der Sie eine tolle Zukunft voraussagten. Das haben Sie richtig gesehen, als Sie sagten, dass alle Marken sich auf diese Marktnische stürzen werden, um ihr Image zu verjüngen, bingo! Lange habe ich geglaubt, dass man kultiviert sein muss, um gute Sportswear anzubieten. Aber heute zeigt sich, dass es ausreicht, inspiriert zu sein. Ich habe nicht wenig Sportswear entworfen, vor allem bei Theory. Ich habe den richtigen Riecher gehabt, viele Luxusmarken sind zu Turnschuh-Marken geworden. Ich liebe Schönheit. Für mich gibt es die schönste Sportswear bei Carhartt, Nike… Diese Marken haben geniale Teams.
Ihrer Ansicht nach verabscheut die Mode Automatismus, und Sportswear ist zum Automatismus geworden. Ist die Sportswear tot?
In der Industrie wird gerne gesagt „Es ist aus“. Nichts ist ewig. Aber, ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Beim Kunden dreht der Wind, es muss eine neue Bresche geschlagen werden, etwas Neues wird kommen, aber was?
Würden sie gerne wieder für ein Modehaus arbeiten?
Ich habe mir immer gesagt, eines Tages, früher oder später, werde ich wieder für ein Haus arbeiten. Karl hat mit 50 Jahren bei Chanel angefangen. Schon auf der Fachschule wusste ich, dass ich für andere Marken zeichnen könnte. Ich fälschte Kollektionen für Helmut Lang, Chanel, Prada… Ich kann sehr persönliche Dinge entwerfen, inspiriert von anderen Universen.
Was finden Sie dort?
Als ich für andere gearbeitet habe, für Rochas, Nina Ricci, Theory, habe ich mich sehr verwirklicht. Für jede dieser Marken habe ich mit einer persönlichen Note gearbeitet, aber immer dem Code des Hauses entsprechend.
Schließlich sind Sie (wieder) selbst aktiv geworden?
Anfangs war es schwierig. Ich habe mich gefragt, wie das mit weniger als 35 Leuten gehen soll. Man ist an große Strukturen gewöhnt. Aber ich habe mich an meine früheren Erfahrungen erinnert. Als ich begonnen habe, habe ich durch viel Arbeit Großes geschaffen. Und ich war immerhin allein.
Wo stehen Sie heute?
Ich durchquere gerade eine Phase, in der die Technik mich fasziniert. Die Arbeit der Herstellung, die Schnitte, die Details. Damals, als ich die erste Hose, Jacke oder ein Kostüm machte, lernte ich noch. Heute spiele ich gerne mit all diesen Dingen, ein Kleidungsstück als Silhouette inspiriert mich.
Ist die Mode weniger anspruchsvoll geworden?
Nein, sie bietet weiterhin extraordinäre Stücke. Aber man muss sich vor Routine hüten. Für mich muss ein Kreativer immerzu erfinden. Ich glaube, ich bin eine Art Kreativ-Schneider. Ich habe sehr früh erkannt, dass das meine Passion ist.
In Ihrer Herbst-/Winterkollektion stellen Sie viele Kleider vor. Faszinieren Kleider Sie?
Ich habe schon immer Kleider bewundert. Sie gehören schlicht und einfach dazu.
Wie arbeiten Sie?
Ich lasse mich führen. Ich bin intuitiv und instinktiv. Dann verarbeite ich alles intellektuell und dann kommt etwas dabei heraus.
Sehen Sie sich als Künstler?
Nicht immer. Neben meiner Arbeit in der Modebranche habe ich schon immer gern gezeichnet. Als Kind malte ich Ölbilder zur größten Freude meiner Eltern. Dann, um ein richtiger Jugendlicher zu werden, habe ich Chaos bereitet mit Staffelei und Farbtuben. Ich weiß nicht, ob ich heute wieder gerne malen würde. Dazu braucht man viel Disziplin.
Aber die haben Sie doch…
Ja, das stimmt. Aber eine Sache nur halb machen, nein danke! Im Innersten bleibe ich ein Zeichner. Ich zeichne um zu atmen.