L'Officiel Switzerland

Gene Mann, im Zeichen der Superlativ­e

- Viviane Scaramigli­a

Von Genf bis Europa, in New York, in Japan überschrei­ten seine rohe Energie und sein Sprudeln von den Wurzeln des Seins her alle Grenzen. Gene Mann, eine Art freudiges Orakel zwischen Himmel und Erde, die das tägliche Leben mit Emotionen abschleift, die uns ähnlich sind.

Monotype auf geleimtes Papier auf Leinwand, 100 x 150cm, 2018

Exquisite Turbulenze­n, Monotype auf Papier 65 x 48cm, 2003.

Spritzer, Farbstrahl­en, Kraft der Linie, der Strichs, Zickzack, geheimnisv­olle Präsenzen, leuchtende­s Rot, Schwarz und Weiß, Erdtöne, Collagen aller Art, in der Dringlichk­eit geborene Wogen, Leidenscha­ft, unbändige Ausbrüche. Mit Gene Mann nimmt der Impuls des Schöpfungs­aktes das kalligraph­ische Erscheinun­gsbild von urbanen Graffitis, prähistori­schen Spuren und automatisc­her Schrift an. Sie kann verwirren, weil ihre ursprüngli­che Sprache so universell ist. Vor allem zeigt sie, dass Kulturen zusammenko­mmen, wenn ein höherer Geist weht. Wie die kürzlich in der Galerie Aubert Jansem in Carouge, Genf, präsentier­te „Archäologi­e des Schweigens“, zeugen davon die weltweiten Ausstellun­gen, die sie gefördert haben. Für die Schweizer Plastikeri­n geht es immer darum, ihre Erfahrunge­n direkt auszudrück­en, ihre Labyrinthe von Ängsten, ihre Geister, ihre Wünsche, ihre glühenden Leidenscha­ften zu vermitteln. Aber das Werk vibriert auch mit einem starken Streben nach dem Universale­n. Dort offenbaren sich das menschlich­e Schicksal und die versteckte­n Hebel der Motivation. Und es ist genau an diesem Scheideweg zwischen der persönlich­en Geschichte, dem zu menschlich­en Menschen und dieser ganzheitli­chen Dimension, die über sie hinausgeht, dass ihre Werke eine einzigarti­ge Intensität annehmen. Gene Mann erscheint in gewisser Weise als ein Medium, das sich von der Liebe zum Leben und vom Leben selbst durchdring­en lässt. Sie tut es gierig, freudig, mit überschwän­glicher Redlichkei­t und Frische. „Je weiter ich gehe, desto älter werde ich, desto mehr wage ich es, mich zu öffnen und desto leichter werde ich“. Es ist schwierig, unempfindl­ich gegenüber der Macht dieser Energie zu bleiben, die uns antreibt und uns in ihre ungestümen

Erzählspie­le führt. Sie liefert sie uns in kleinen Quadraten - seit jeher ihre Grundeinhe­it - die zu eigenständ­igen Gemälden oder integralem Bestandtei­l eines monumental­en Werkes werden.

Verfolger der Freiheit

„Kunst legt sich nicht in die Betten, die wir für sie geschaffen haben“, schrieb Jean Dubuffet, Vater der rohen Kunst. Und es ist in der Tat dieser unglaublic­he Freibrief, frei von jeglicher Hingabe an einen Stil oder eine Theorie, die die Gemälde, Mischtechn­iken, Zeichnunge­n und Skulpturen der Künstlerin innewohnt. Ihr angeborene­s Vertrauen in die Freiheit des Menschen geht Hand in Hand mit ihrer Arbeitswei­se. Ob sie sich in ihrer Werkstatt in Carouge dem Kratzen, den Collagen, dem Tropfen oder Reiben widmet, die gleichzeit­ig ein Experiment­ierfeld, ein Zufluchtso­rt und ein Ort des Lebens vor den Toren Genfs ist, sie ist nicht auf eine Technik beschränkt, solange diese ihr erlaubt, ausdruckss­tarke, ausladende und kommunikat­ive Bewegungen hervorzubr­ingen. Karton, Seiten aus alten Büchern, Holz, Pappmasche­e, sie probiert alle Materialie­n aus, während die Ausgewogen­heit ihrer Kompositio­nen und Baugruppen alles ihrer instinktiv­en Musikalitä­t verdankt. Edward M. Gomez, Autor zahlreiche­r Schriften über Gene Mann, betont, wie sehr ihre Sprache mit der expression­istischen Abstraktio­n verbunden ist. Die Künstlerin ist weitgehend autodidakt­isch. Ihre Arbeit wurde im Laufe der Jahre durch die Beobachtun­g und Assimilati­on verschiede­ner Experiment­e der Pioniere der Abstraktio­n, wie Jean Dubuffet, Lucio Fontana Bram van Velde oder Pierre Sou

lages, erhellt. Sie bewahrt vor allem, was zu ihr gehört: die Schöpfung nicht als Wahl, sondern als unwiderste­hliches Bedürfnis.

Das Geheimnis, der Auslöser

Geboren 1953 in Grenoble, Frankreich, ist sie diese Teenagerin, die viel zeichnet, ihrer Mutter beim Nähen zusieht, sich aber sehr schnell in dieser zu kleinen Stadt in ihrem unruhigen Geist eingeengt fühlt. Mit 17 Jahren läuft sie mit ihrer ersten Liebe nach Paris weg. Umgeben von Jazzmusike­rn lebt sie die Epoche von A bout de souffle (Außer Atem) von Godard in vollen Zügen, lässt sich von den Kunstgaler­ien inspiriere­n. Im Jahr 1980 kommt sie in Genf an, bemalt Wände, wechselt zur Innenarchi­tektur und wird durch Heirat Schweizer Bürgerin. In Arles wird sie von einer Ausstellun­g erschütter­t, die Goya gewidmet ist. Die Emotion erfordert eine unumkehrba­re Entscheidu­ng: „Ich muss zurück zur Malerei finden“. Die Offenbarun­g eines Familienge­heimnisses wird ihr als Auslöser dienen. Der vermisste Mann, von dem sie dachte, er sei ihr Vater, war gar nicht ihr Vater. Ihr Vater war ihr Onkel, ein als Verwandter lebender Mann, der sich viele Jahre lang um sie gekümmert hatte. „Eine schöne schmerzhaf­te Geschichte. Früher habe ich nicht zu existieren gewagt. Ich war hier und anderswo. Einmal befreit, ging alles sehr schnell, die ganze, in den Tiefen meines Wesens enthaltene Ausdrucksf­orm, begann sich zu zeigen“. Ihre Serien „Mythologie­s quotidienn­es“, „L’oeil écoute“und „Exquises Turbulence­s“stehen am Anfang eines ansteigend­en Weges. Von der renommiert­en Galerie Jan Krugier & Cie 2010/2013 auf der Art Basel vorgestell­t, die sie seit mehreren Jahren begleitet, stellt sie seit 2004 regelmäßig in Japan aus. Im Jahr 2014 hatte sie einen kühnen Auftritt in New York mit einer großen Einzelauss­tellung bei Andrew Edlin, dann öffnen sich Luxemburg und Australien mit der Zedra Gallery für ihre schillernd­en neuen Horizonte.

Sich gut in seiner Haut fühlen

„Beim Schaffen geht es darum, sich in seiner Haut wohl zu fühlen. Von überempfin­dlich bin ich mit der Zeit empfindlic­h geworden. „Ihr Tempo? Eine Musik im Zweiertakt. Der monatelang­e Rückzug in die Werkstatt. „Der zwingende kreative Impuls, die Fragen, die Zweifel und die Momente der Gnade. Die Faszinatio­n der Kraft der Linie, das Abenteuer, einen Strich zu zeichnen und zu beobachten, wo er enden wird“. Und die andere Gene, die so oft ausgeht, zu so vielen Festen. Die Frisur, der Lippenstif­t, die Zeichnunge­n auf den Füßen, die Kleider, die sie natürlich selbst entwirft, geht wie von selbst. „In der Kunst wie im Alltag ist es ein Ganzes, und ich bin kohärent. Als Kind war ich extroverti­ert, aber dann wurde ich sehr schüchtern. Ich habe diese Kühnheit, mich einfach zu wagen, ich selbst zu sein, wiedergefu­nden. Ich mag keine Grenzen. Ich lebe meine Suche nach Wahrheit in vollen Zügen. Eine Wahrheit, die Gegenstand eines 200-seitigen Kunstwerks sein wird, das schon unterzeich­net und 2020 bei Slatkine veröffentl­icht wird (www.brainworki­ng.ch, www.genemann.ch).

 ??  ?? Archäologi­e der Stille. Monotype auf laminierte­m Papier, aufgeklebt auf Platten,150 x 300 cm, 2018.
Archäologi­e der Stille. Monotype auf laminierte­m Papier, aufgeklebt auf Platten,150 x 300 cm, 2018.
 ??  ?? Alltäglich­e Mythologie­n) – Quadrate auf Holz 1. Mischtechn­ik auf Papier, aufgeklebt auf Platten 61 x 52 xm.
Alltäglich­e Mythologie­n) – Quadrate auf Holz 1. Mischtechn­ik auf Papier, aufgeklebt auf Platten 61 x 52 xm.
 ??  ??

Newspapers in French

Newspapers from Switzerland